60 Zentimeter. So viel Distanz braucht der Mensch, um sich von seinem Gegenüber nicht bedrängt zu fühlen – das sagt die Wissenschaft. Und die gilt auch für uns Schweizer. Kommt die fremde Nasenspitze näher, dann entsteht Stress.
Oder um es mit dem neusten politischen Kampfbegriff zu sagen: Dichte-Stress.
Während des Abstimmungskampfes um die Masseneinwanderungsinitiative der SVP verging keine Debatte, ohne dass dieses Schlagwort fiel. Ob Gegner oder Befürworter des Volksbegehrens, der Befund war immer derselbe:
In den S-Bahnen herrscht Dichte-Stress.
Auf den Autobahnen herrscht Dichte-Stress.
In den Wohnüberbauungen herrscht Dichte-Stress.
In der ganzen Schweiz herrscht Dichte-Stress.
Diese kollektive Stressdiagnose wurde mit Zahlen unterfüttert. Zum Beispiel mit diesen:
Ein Quadratmeter Land wird in der Schweiz pro Sekunde überbaut.
Seit 2007 wächst die Schweiz um jährlich um 80.000 Einwohner, das sind ein Prozent der Gesamtbevölkerung.
Im Mittelland, also im Bogen zwischen Genf und St. Gallen, dort, wo die meisten Schweizer leben, drängen sich 426 Menschen auf einen Quadratkilometer. In Europa leben nur die Niederländer noch näher aufeinander.
Und als im Sommer 2012 die Schweizer Statistiker den achtmillionsten Einwohner zählten, so viele Menschen lebten noch nie hier, schüttete die ganze Nation ihre Dichte-Stress-Hormone aus. Sie zitterte vor der Dystopie eines zubetonierten Stadtstaats.
So meinte man zumindest. Bis zum 9. Februar. Am deutlichsten für die Initiative stimmten nämlich jene Regionen, die vom Dichte-Stress am wenigstens betroffen sind. Etwa der ländliche Kanton Appenzell Innerrhoden. Oder jene Agglomerationsgemeinden, wo der Boom erst vor Kurzem einsetzte. Hingegen schmetterten Städte wie Genf, Zürich oder Basel die Vorlage ab.
In der Abstimmungsanalyse wurde klar: Hinter der Rede vom Dichte-Stress steckt eine irrationale Angst. Eine Angst vor dem Wachstum – und dem Verlust einer idyllischen Heimat.
Kommentare
Wie hätten Sie es den gerne?
Irgendwie scheint die Schweizer Tourismuswerbung von Dichtestress noch nichts mit bekommen zu haben:
http://www.myswitzerland....
Dichtestress: Doch: Siehe Zweitwohnungsinitiative
Die Schweizer erkennen wohl eigentlich eher, dass sie selbst an der Zubetonierung Schuld sind: Siehe die http://www.zweitwohnungsi...
Das sind nicht Ausländer, sondern die Schweizer selbst die in den Bergen ein Chalet, am See eine Wohnung, die Oma am Ein Teil redet sich ein und lässt sich vom unsäglichen Milliardär Blocher einblochen, dass die anderen Schuld sind. Klar, Selbstbetrug ist leichter als Einsicht. Kennen die Deutschen auch.
Entfernt. Bitte verzichten Sie auf diskriminierende Äußerungen. Die Redaktion/mak
Wehrhafte Schweizer mit Gewehr UND Stimmzettel
"In Wahrheit fürchten viele Wachstum und den Verlust der heimatlichen Idylle".
In diesem Fall war das Volksvotum vom Sonntag auch ein aktiver Beitrag zum Heimatschutz.
Das kann so nicht funktionieren
Es kann aber nicht funktionieren, einerseits alle Vorteile offener Grenzen für sich in Anspruch zu nehmen und auf allen möglichen Feldern den Global Player spielen zu wollen, andererseits aber selber die Schotten dichtmachen und zuhause eine niedliche Heidiland-Idylle bewahren zu wollen. Wenn man schon ein Heimatschutzverständnis dieser Art pflegen will, dann bitte konsequent und z.B. dem vielzitierten Beispiel Bhutan folgen. Dann kann man Einreisekontingente jeglicher Art festlegen (bis hin zur Zahl der Touristenvisa), wird aber damit leben müssen, dass ein erheblicher Teil der Bevölkerung wieder zur Subsistenzwirtschaft zurückkehren muss. Ob damit viele Schweizer glücklich wären, darf man jedoch bezweifeln.
Menschenrecht auf Heimat
die Schweizer wollen darauf nicht verzichten.
Ergänzung: Gentrifizierung
Zuwanderung wird irgendwann auch zur Gentrifizierung führen. In manchen (linken?) Teilen Berlins sind Schwaben nicht mehr willkommen.