Wir kennen das aus dem Privatleben: Es gibt Konflikte, die lassen sich nicht lösen, und wir fechten sie nicht bis zum bitteren Ende aus. Kommt es indes aus anderen Gründen zum Streit, werden sie wieder ausgegraben und dienen als zusätzliches Kampffeld. Sie sind gewissermaßen eine Streitreserve. In der Diplomatie heißen sie frozen conflicts, eingefrorene Konflikte. Zu ihnen zählen auch solche, die aufgrund einer Intervention von außen stillgelegt wurden, obwohl ihre Ursachen fortwirken – etwa die Gegensätze auf dem Balkan. Oder solche, in denen keine Partei der anderen endgültig ihren Willen aufzwingen kann; diese Konflikte finden immer wieder einen Ruhepunkt, um danach erneut aufzuflackern, wie der zwischen Israel und den Palästinensern.
Wer nach Beispielen für eingefrorene Konflikte sucht, wird vor allem im ehemaligen Machtbereich der Sowjetunion fündig. Die Streitgegenstände heißen beispielsweise Südossetien und Abchasien, die beide rechtlich zu Georgien zählen, deren Unabhängigkeit aber von Russland anerkannt wird; weitere Beispiele sind Berg-Karabach und Transnistrien. Wladimir Putin hat dieser Aufzählung die Krim hinzugefügt. Die Ostukraine, in der er eine Art Stellvertreter-Bürgerkrieg führt, könnte bald folgen – und wer weiß, wer noch so alles. Womöglich hat er die baltischen Staaten im Blick, Moldau oder Serbien.
Moskau sammelt frozen conflicts, alles Schauplätze möglicher Eskalation, die am Westrand Russlands liegen. Es hätte zwar nicht die Kraft, alle diese Konflikte gleichzeitig heiß zu machen, aber schon ihre bloße Existenz sowie die Unberechenbarkeit der Putin'schen Politik stellen ein Machtpotenzial des Kreml dar. Und zwar auch deshalb, weil er weiß, dass der Westen ebenso wenig ein Interesse daran hat, dass es an allen Orten zugleich hoch hergeht. Der Westen kann und muss zwar darauf beharren, dass das Völkerrecht fortgilt und, beispielsweise, die Krim nicht als Teil Russlands anerkannt wird – aber er wird, um die Sache in der Ukraine nicht anzuheizen, keine Anstrengungen unternehmen, den Fait accompli rückgängig zu machen.
Frozen conflicts haben etwas Unwahrhaftiges, könnte man meinen. Nur geht es in der Weltpolitik nicht um die Erzeugung von Wahrheit, sondern um Interessen (wer das zynisch findet, dem sei gesagt: Frieden und Freiheit sind ebenfalls Interessen). Und es kann sogar dem Interesse beider Konfliktparteien dienen, bestimmte Streitgegenstände sozusagen einzukapseln, was letztlich bedeutet, Entscheidungen aufzuschieben. Das muss nicht immer schlecht sein. Als sich beispielsweise die Bundesrepublik entschlossen hatte, die Legitimität der DDR als Staat nicht länger infrage zu stellen, konnte an die Stelle fruchtlosen Gezerres (Hallstein-Doktrin) ein Wettstreit der Ideen und Modelle treten, den der Westen schließlich gewann. Mit Taiwan wiederum, von der Volksrepublik China nie als souveräner Staat akzeptiert, macht das kommunistische Großkapital beste Geschäfte. Geht doch.
Zeitgewinn kann in der Diplomatie ein eigener Wert sein, wie Talleyrand, der große französische Diplomat, schon vor mehr als 200 Jahren wusste. Die meisten Dinge werden durch Abwarten nicht besser, aber die Zeit bietet immer neue Gelegenheit, auf sie einzuwirken. Auf Dauer kann es sogar gelingen, den einen oder anderen Konflikt auf diese Weise zu demilitarisieren; man musste beispielsweise abwarten, bis schließlich die Deutschen ein Einsehen hatten und ihr revanchistisches Geschwätz von der Oder-Neiße-Linie aufgaben. Endgültig anerkannt wurde Polens Westgrenze erst mit der Wiedervereinigung – ein unvorhergesehenes Ereignis, das den eingefrorenen Konflikt endlich beendete. Wieder hatte der Zeitablauf sein Gutes gehabt.
Was bedeutet das alles für den Umgang mit dem neuen russischen Regionalimperialismus? Es versteht sich, dass er so weit als irgend möglich eingedämmt werden muss. Schließlich, allein weil ein Land Russland zum Nachbarn hat, hat es nicht weniger Recht auf Souveränität und Integrität als andere. Doch nicht jeder Konflikt mit Moskau muss sogleich und endgültig ausgetragen werden. Vielleicht hält der Putinismus ja gar nicht so lange?
Außerdem, ein bisschen Ungewissheit darüber, wie der Westen in dem einen oder anderen Fall reagieren würde, stünde ihm strategisch sogar gut zu Gesicht. Es genügt, dass dem Kreml bewusst bleibt, ein großes Risiko einzugehen, tastete er das Baltikum oder gar Polen an. Weshalb die Nato gut daran täte, den dortigen Luftraum schwarz vor Luftüberwachungssystemen werden zu lassen und immer schön Übungen abzuhalten, um präsent zu sein. Ein Vorgehen wie in der Ukraine an der Ostsee, das wäre ein Konflikt, der nicht zum Einfrieren taugt: Für diese Länder gilt die Sicherheitsgarantie der Nato.
Kommentare
Serbien..
.. bestimmt, ja. Wie kommt man denn auf sowas?
Wenn unsere Medien und Politiker nicht getrieben von Hysterie wären, könnte man deutlich schneller ein Ende des Konflikts und zurück zum normalen Umgang mit Russland kommen.
Da sind ja teilweise Annahmen über die weiteren Pläne Russlands dabei, wenn man das wirklich auch so in Regierungskreisen denkt, dann bin ich entsetzt.
Und schon gehts los...
"Da sind ja teilweise Annahmen über die weiteren Pläne Russlands dabei, wenn man das wirklich auch so in Regierungskreisen denkt, dann bin ich entsetzt."
http://www.spiegel.de/pol...
Vertrauen ist gut, Abschreckung ist besser
"Es genügt, dass dem Kreml bewusst bleibt, ein großes Risiko einzugehen, tastete er das Baltikum oder gar Polen an. Weshalb die Nato gut daran täte, den dortigen Luftraum schwarz vor Luftüberwachungssystemen werden zu lassen und immer schön Übungen abzuhalten, um präsent zu sein. "
Exakt! Abschreckung und Verteidigungsbereitschaft garantiert den Frieden.
Schwäche und zweideutige Signale sind eine Einladung an potentielle Aggressoren und revanchistische, expansionistische Mächte.
Garantien
"Abschreckung und Verteidigungsbereitschaft garantiert den Frieden."
Das garantiert allein keinen Frieden. Zeig dem anderen, dass Du eine Gefahr und keine Beute ist, hilft, wenn der andere mich bedrohen will. Hat der andere aber vielmehr die Furcht, dass sich die Gefahr, die ich ausstrahle, realisiert, wird er mich eventuell doch präventiv angreifen.
Die frühere Sowjetunion wurde vom Westen zurecht als potentiell aggressiv angesehen. Gleichzeitig gab es aber schon in der sowjetischen Planung als Nachwirkung des 2. Weltkrieges die Furcht, selbst angegriffen zu werden, weswegen man ein möglichst weites Vorfeld in Osteuropa wollte, um nicht wie 1941/42 in eine existentielle Bedrohung zu geraten.
Was die russische Regierung mit ihrer Politik in Osteuropa und im Kaukasus will, wird langsam wieder ein Fall für die Kreml-Astrologen. Eigene Politik kann sich aber nicht nur danach ausrichten, was der andere möglicherweise tun wird oder auch nicht. Dann beschränke ich mich auf Reaktionen statt selbst zu agieren.
An der Verteidigungsbereitschaft und - fähigkeit der NATO-Staaten zueinander darf es keinen Zweifel geben, weil schon diese Regelung im Vorfeld politisch abschreckend wirkt. Für die aktive Politik der Staaten der NATO und der EU fehlt aber derzeit ein klarerer Kompass für die jeweilige Richtung. Hier wirkt der Libyen-Einsatz noch nach, bei dem eine für die Menschen sicher hilfreiche Verteidigung dazu umschlug, dass die NATO sich zur Luftwaffe der Rebellen degradierte.
alles nach Putins Pfeife
Aber wir müssen doch nicht zwingend in Moskau zur WM?
via ZEIT ONLINE plus App
eingefrorene Konflikte geht ja noch
Moin Moin,
der "Westen" scheint indes eher bereit, niederschwellige Unruhen in lodernde Bürgerkriege anzufachen.
Vielleicht ist die russische Methode besser weil wesentlich weniger blutig?
CU