Ich nehme den Bus nach Abu Dis.
Es ist eine großartige Strecke. Wir fahren durch ein grandioses Panorama von Bergen, die nahtlos ineinander übergehen, als wollten sie die Heilige Stadt mit einer majestätischen Demonstration der Stärke beschützen. In den Ortschaften, die wir auf dem Weg zur Al-Quds-Universität passieren, sehe ich hier und da Hakenkreuze in verschiedenen Größen und Farben. Auf einen syrienliebenden Deutschen wie mich wirken sie natürlich fantastisch.
Falls ich es noch nicht erwähnt habe: Ich trage heute wieder meine syrische Baseballmütze, und die palästinensischen Jugendlichen, die gelegentlich Freude daran haben, Steine auf israelische Soldaten zu werfen, jubeln mir zu, wenn ich an ihnen vorbeifahre. "Syrien", rufen sie.
Am Eingang der Al-Quds-Universität höre ich, dass die israelische Armee gestern auf das Universitätsgelände vordringen wollte, jedoch von Wachen und Studenten aufgehalten wurde. Es kam zu einem Kampf, dann waren die Soldaten drinnen.
Keine Ahnung, ich war nicht hier, bin gerade erst angekommen.
Alle palästinensischen Studentinnen tragen Hidschab. Die Frauen ohne Hidschab sind ausnahmslos Ausländerinnen. Al-Quds und das amerikanische Bard College, erfahre ich, sind Partneruniversitäten. Ich hätte mich gerne ausführlicher mit den Amerikanern unterhalten, will aber den internationalen Menschenrechtswettbewerb nicht verpassen.
Es gibt nur ein kleines Problem – ich kann ihn nicht finden. Wo findet der internationale Menschenrechtswettbewerb statt? frage ich einen dicken Mann, der gerade vorbeiläuft.
"Gehen Sie da rüber", er zeigt auf eine Gruppe von vier Männern, "das sind Menschenrechtsprofessoren."
Ich frage die vier. Sie wissen nichts von einem Wettbewerb. Da ich aber einmal hier bin, würde ich das Thema liebend gerne mit Ihnen diskutieren.
Sie wären nur zu gerne bereit, sich mit mir zusammenzusetzen und zu reden, aber ihre Seminare beginnen in wenigen Minuten. Menschenrechtsseminare, versteht sich.
Ich gehe zur Pressestelle der Universität, wo mir Rula Jadallah weiterhilft.
Wo finde ich die Menschenrechtsseminare? frage ich Rula.
Sie ruft diverse Fachbereiche an, sieht in Vorlesungsverzeichnissen nach, findet aber nirgendwo an dieser Universität um diese Uhrzeit ein Menschenrechtsseminar.
Die Professoren haben mir leider ein Märchen erzählt.
Sauer bin ich deswegen natürlich nicht. Im Nahen Osten geht es nur um Märchen, nie um die Wirklichkeit.
Hinter Rulas Tisch hängt ein Brief von USAID an der Wand sowie ein weiteres Schreiben, das eine Bewilligung der US-Regierung von 2.464.819 US-Dollar für das Jahr 2006/2007 ankündigt. "Das ist das einzige Mal, dass wir Geld von den Vereinigten Staaten für dieses Programm bekommen haben", berichtet Rula mir. Deutschland aber ist gut. Das Nanotechnologie-Labor dieser Universität wurde von Deutschland gesponsert, verrät Rula diesem Deutschen mit einem Lächeln.
Weiß Rula irgendetwas über den Menschenrechtswettbewerb, der heute an dieser Universität stattfinden soll? Nein. Oder besser gesagt, ja, sie weiß etwas: Von einem Wettbewerb gibt es weit und breit keine Spur.
Ich sage ihr, dass ich den Hinweis auf einen in diesem Moment stattfindenden Wettbewerb auf der Homepage der Universität entdeckt habe. Rula geht auf die Homepage ihrer eigenen Universität und findet dort einen Wettbewerb. Also, gibt es ihn, oder gibt es ihn nicht? Die Antwort lautet: Ja und nein. Ja im Cyberspace. Nein in der Realität. Warum kündigt die Universität etwas an, das nicht existiert? Dämliche Frage! Der Wettbewerb wird gesponsert, nur bemüht sich außer diesem Syriendeutschen kein anderer Europäer bis nach Abu Dis, um an so etwas teilzunehmen.
Das Leben ist eine Fiktion. Punkt. Und Rula lacht jetzt. Die beste Öffentlichkeitsarbeit, stelle ich fest, ist Lachen.
Ich sinniere über den Unterschied zwischen Arabern und Juden. Wenn Araber sich etwas aus den Fingern saugen, dann tun sie es mit einem Lachen ab, sobald man ihnen auf die Schliche kommt. Juden wie der Atheist Gideon oder der gläubige Arik aber werden dann sehr unentspannt.
Wie können Juden selbst in ihren wildesten Fantasien auf den Gedanken kommen, dass sie in den grausamen und lustigen Landschaften dieses Nahen Ostens überleben könnten? Vielleicht leben deshalb hier seit so langem Araber, während die Juden alle 2000 Jahre auf einen Sprung vorbeischauen, für eine kurze Verschnaufpause nach einem Auschwitz.
Der Süden Israels, habe ich irgendwann gehört, sei anders. Vielleicht sollte ich da einmal vorbeischauen und mir anhören, wie sie dort über Krieg und Frieden denken.
Kommentare
Wieder einmal genial und authentisch.
Vielen Danke für die Einblicke in das wahre Israel. Ich hoffe, Sie schreiben noch lange Zeit diese Kolumne.
*word*
Kein Freund der Deutschen
Das Deutschland, das Tenenbom einmal einige Monate lang bereiste, erscheint in seinem Buch als düsterer Ort voller Nazis und Antisemiten. In "Allein unter Deutschen" heißt es u.a.:
"Dieses Land hat sich seit Hitlers Herrschaft nicht geändert", sagt er. "Ich hasse die Deutschen. Hasse sie, ihre großen Masken, ihre endlosen Diskussionen, ihre ständige Predigerei, ihren impliziten oder expliziten Judenhass, ihre Rückgratlosigkeit, ihre exakte Art, ihre exakten Lügen, ihre Starrsinnigkeit, ihren versteckten Rassismus, ihr ständiges Bedürfnis, geliebt und gelobt zu werden, und ihre Selbstgerechtigkeit".
Ich wundere mich, dass so einer hierzulande auch noch ein Forum geboten bekommt...
Das ist schon
starker Tobak von Tenenbom. Aber es gibt halt immer wieder Leute, die sich gerne in ihren Feindbildern suhlen. Wie Karl Valentin riet: Nicht mal ignorieren.
Glücklicherweise
gibt es auch ernstzunehmendere jüdische Autoren als Tenenbom.
@Carlton
Sie sagen es.
Ich empfehle wärmstens z.B. Gilad Atzmon, der in seinem jüngsten Buch "Der wandernde - Wer?" seinen Finger in die Wunde legt, die Israel in toto im Nahen Osten darstellt.
Ich finde, ein beeindruckender wie witziger Bericht über Israel,
und ich denke, einem jüdischen Theatermann sollte man nach dem Holocaust schon mal nachsehen, dass er Antisemiten veralbert, wo er sie nur findet.
Veralbern ist in jedem Fall lustiger als ihnen kurzer Hand empört eins über die Rübe zu ziehen.
Seine Reportage im Neumünsteraner Club 88 ist ebenfalls sehr mutig und gleichzeitig witzig.
http://www.juedische-allg...
Ich hätte mich da nicht reingetraut, und ich bin nicht mal Jude.
Wir sollten uns einfach abgewöhnen, von allen Juden zu verlangen, dass sie uns nett finden, nur weil wir seit etwa 70 Jahren kaum noch welche von ihnen umbringen.
Wer immer und ewig beliebt sein will, sollte seine historisch einschlägigen Aktivitäten einfach vorausschauender planen.
Weltmeister der Herzen
"Wer immer und ewig beliebt sein will, sollte seine historisch einschlägigen Aktivitäten einfach vorausschauender planen."
Hat doch funktioniert. In der islamischen Welt hat sich Deutschland mit seinen "historisch einschlägigen Aktivitäten" sehr beliebt gemacht. Oder glaubt hier jemand, Deutschland ist allein durch seine Autos und seine Nationalmannschaft "Weltmeister der Herzen" geworden?
Der Holocaust ist eine Investition, die auf vielen Wegen bis heute satte Dividenden abwirft. Nur hören Deutsche das nicht gerne.
Jeder, der sich in der arabischen Welt als Deutscher zu erkennen gibt, wird sehr schnell Sätze wie "You are german? I love aryan Germany! Sieg Heil!" hören.
Vielleicht ist das auch ein Grund, warum manche Israelis uns Deutsche nicht mögen: Nicht wegen der Geschichte, sondern weil Araber die Deutschen aufgrund ihrer Geschichte so sehr verehren.
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Da solche Dinge in deutschen Medien totgeschwiegen werden, sehen Israelis umso genauer hin.