Am vergangenen Sonntag war ich Gast im ARD-Presseclub, das Thema der Sendung lautete: "Unberechenbare Türkei – wie Europas Partner zur Gefahr wird". Es ging um die Bombardements der türkischen Luftwaffe auf Stellungen des sogenannten "Islamischen Staates" (IS) in Syrien und der PKK im nordirakischen Kandil-Gebirge. Auch wenn prinzipiell jeder Staat das Recht hat, sich gegen Terrorakte zu wehren – welche innenpolitischen Faktoren bei dem Kampf gegen die PKK eine Rolle spielen dürften, habe ich in der letzten Ausgabe der ZEIT beschrieben.
Nach Ende des Presseclubs folgt Nachgefragt, weitere 15 Minuten des Presseclubs, die allerdings nur auf Phoenix ausgestrahlt werden. Zuschauer dürfen dann anrufen und den Gästen im Studio Fragen stellen. Ein offensichtlich sehr aufgeregter und wütender türkischstämmiger Zuschauer wurde in die Sendung geschaltet. Er sagte zuerst, dass Staatspräsident Tayyip Erdoğan ein Diktator sei und die Türkei islamisiert werde. Dann wollte er eigentlich eine Bestätigung seiner Beobachtung. Also lautete die Frage: Wird die Türkei islamisiert? Die Moderatorin Sonia Mikich schaute auf mich. Ich sollte die Frage beantworten. Ich setzte an. Staatspräsident Erdoğan, sagte ich in etwa, ist der erste vom Volk direkt gewählte Staatspräsident der Republik Türkei, ob uns das passt oder nicht. Die Entscheidung des Wählers einfach so für nicht existent oder wichtig zu erachten, nur weil sie einem nicht passt, finde ich respektlos. Die Türkei ist keine Diktatur. Nur: Dass der Staatspräsident demokratisch und direkt gewählt wurde, heißt nicht, dass er nicht autoritär agiert. Dass dies hier der Fall ist, dürfte mittlerweile Konsens sein. Nicht einmal engste Berater der AKP-Regierung, wie der ehemalige Chefberater von Premierminister Ahmet Davutoğlu, Etyen Mahçupyan, tun so, als wäre die Türkei eine perfekte Demokratie.
Bei der zweiten Frage, der nach der Islamisierung, habe ich, gelinde gesagt, komplett versagt. Sicher schwang in meinem Kopf die regelmäßig wiederkehrende islamophobe Debatte aus Deutschland und einigen anderen europäischen Ländern mit, und die besonders liberalen Menschen, die immer noch meinen, jede verhüllte Frau befreien zu müssen, und bei jedem betenden Muslim gleich nervös werden. Ich wollte eine einfache Antwort geben, obwohl es hier keine einfache Antwort gibt.
Das Religiöse wird sichtbarer
Der Vorwurf an die islamisch-konservative AKP, sie wolle das Land islamisieren und dem Iran gleichmachen, mit "Einführung der Scharia" und Zwangsverhüllung, ist so alt wie die Partei selbst. Ich habe in etwa geantwortet, dass das säkulare und liberale Milieu diesen Vorwurf hegt; dass das religiöse Leben im Alltag viel sichtbarer ist (und zwar nicht nur Frauen, die einfach nur Kopftuch tragen, sondern in bestimmten konservativen Stadtteilen von oben bis unten schwarz eingehüllt sind; man sieht auch viel häufiger Anhänger unterschiedlicher Orden mit Pluderhosen und Kopfbedeckung), und dass es natürlich Reibung gibt, wenn eine Machtelite (wie seit 13 Jahren eine religiöse) eine andere (nämlich die säkulare) ablöst. Aber wie so vieles ist natürlich auch das nicht so einfach in der Türkei.
Die Regierung fördert diese Sichtbarkeit des Gläubigen – diese Menschen sind ja ihre Stammklientel. Das merkt man an vielen Veränderungen. Die Zahl der sogenannten Imam-Hatip-Schulen, die einen intensiveren Religionsunterricht haben, steigt an. Unter der AKP-Regierung wurde der Verkauf von Alkohol nicht nur zeitlich eingeschränkt (gut, in Hamburg darf man in der U-Bahn auch nicht mehr seine Bierdose offen mittragen – und viele freuen sich darüber). Im letzten Wahlkampf stieg der Staatspräsident mit einem Koran auf die Bühne, die politische Sprache wurde zuletzt generell nicht nur nationalistischer, sondern auch religiöser. Eine Sprache, die unterschiedliche muslimische Konfessionen benannte und dem politischen Gegner den Glauben absprach. Vor einigen Tagen beschimpfte der Chef der Nationalisten die Wähler der prokurdischen Partei HDP als "in Villen am Bosporus sitzende und an ihrem Whisky nippende Ehrenlose".
Nur – heißt das jetzt alles, die Türkei wird "islamisiert"? Ist sie es vielleicht schon? Wie misst sich das genau? Und was war vor der AKP?
Die Geschichte der Türkei ist eine, die viele Opfer kennt. Auch vor der AKP und der polarisierten Atmosphäre, für die sie mitverantwortlich ist, gab es sie. Die Armenier, die Aleviten, die Linken, die Kurden. Die sind vielleicht Daueropfer. So gesehen sind auch Soldaten Opfer, junge Männer, die seit bald 40 Jahren in einen Konflikt mit der PKK geschickt werden, der militärisch nicht zu lösen ist. Ihre Familien wohnen meist nicht in Villen am Bosporus, sondern oft in Arme-Leute-Vierteln und Arme-Leute-Häusern. Das sieht man, wenn das Fernsehen die Familien von Gefallenen und Getöteten besucht, wie in den vergangenen Tagen wieder. Die Familien der "anderen" Seite sieht man nicht.
Kommentare
die verstecken sich aber wer sehen will, sieht es
"Der Vorwurf an die islamisch-konservative AKP, sie wolle das Land islamisieren und dem Iran gleichmachen"
Wer das noch leugnet, lebt ja nicht auf diesen Planeten oder unendlich naiv als Beispiel will ich mal das erzählen wie sie es sich die Erdogan Anhänger verstecken versuchen aber es kommt doch heraus:
Vor einpaar Tagen hier im ZON schreibt ein überzeugte bekennende Erdogan Jünger zu *Beruhigung* der deutschen Foristen "Keine Angst, Türkei wird nie ein Islamische Staat*, da schreibt ein andere Forist dazu "Das aus ihrem Mund, sie haben noch nicht so lange zeit hier über Atatürk "Götzen Anbetung* geschrieben" danach war Minuten lang ruhe, keiner hat was geschrieben bis ihn eine adere türkische Forist angeschrieben hat ob das richtig ist, natürlich war diese Ertapter erst mal sehr kleinlaut und man hat gesehen das er sein wahres Gesicht verplappert hat!
hier zum nach lesen ab 20ten Kommentar:
http://www.zeit.de/politik/a…
Sie verstecken sich hier in Deutschland aber in Türkei zeigen sie ihres wahres Gesicht!
wollen wir wetten?
Und ich wette das die gleich kommen werden und Sie noch mal der *Türkei-Hass* beschuldigen werden oder *deutsche Presse* die lügt oder beides.
eigenartige Doppelmoral
Der westen führt einen Krieg gegen viele mulimische Länder unter dem Vorwand der Terrorbekämpfung und hat dabei,wie Beispiele wie Irak und Syrien zeigen, den Fundamentalismus nur gestärkt. Dabei legt man eine eigenartige Doppelmoral an den Tag. Man sieht sich verbündet mit einem mittelalterlichen Gottesstaat wie Saudi Arabien, der außen- und wirtschaftspolitisch kooperiert, und bekämpft gleichzeitig in Syrien ein säkulares System, das den Islamismus bekämpft, wie es auch schon im Irak der Fall war. Hier begrundet man die Feindseligkeit mit Demokratie- und MR-Defiziten,was bei den Saudis,Ägyptern etc. offenbar keine Rolle spielt.
Im Falle der Türkei kommt ja noch der extreme Nationalismus hinzu, den die Autorin nicht erwähnt. Minderheiten wie Kurden, Alewiten, Armenier sind den Religiösen wie den Kemalisten gleichermaßen verhasst, und dieser Hass kommt Erdogan bei seiner Propaganda zugute.
Und weil die Türkei geostrategisch wichtig ist, lässt man den Nato-Partner gewähren.
Zumindest ein Versuch um Ausgewogenheit
Jede Bevölkerung bekommt die Regierung, die sie verdient:) oder anders gesagt: die sie möchte. Es wäre eine Illusion zu glauben, dass eine mehrheitlich authoritär denkende und handelnde Gesellschaft keine authoritäre Regierung wählt. In diesem Sinne erfüllt Erdogan durchaus die Vorstellungen der Wähler mehrheitlich. Aber natürlich, das gefällt nicht jedem (muss es auch nicht) und es tun sich breite Schichten auch sehr schwer mit ihm. Aber trotzdem denkeich, es ist nicht die Authorität, mit der sich die meisten schwertun. Die kemalistische CHP huldigten ihren authoritären Vorsitzenden (Türkeikenner wissen, Atatürk-Büsten,Statuen, Bilder überall), bei Erdogan aber heißt es, er sei authoritär. Meine Meinung ist, dass sich die meisten (das sehe ich vor allem in meinem Freundeskreis) mit seinem islamischen Weltbild reiben. Die größte Ablehnung Erdogans wird durch eine tiefe Abneigung gegen den Islam getragen, einer Islamophobie also. Im Westen wie in der Türkei.
leicht überrascht!^^
"Die größte Ablehnung Erdogans wird durch eine tiefe Abneigung gegen den Islam getragen, einer Islamophobie also. Im Westen wie in der Türkei."
ohnnn was ganz neues, säkularen Moslems sind auch schon Islamophob! :-)
Eine Islamisierung ist nicht das Problem...
"Eine Sprache, die unterschiedliche muslimische Konfessionen benannte und dem politischen Gegner den Glauben absprach."
diese Idee, dass derjenige, der nicht dasselbe glaubt wie die Islamisten, gleich ein "Ungläubiger" sein müsse, nennt sich "Takfir" und stammt aus Saudi Arabien. Dort wird "Abfall vom Glauben" schon lange mit dem Tode bestraft.
Diese toxische Idee wurde von Saudi Arabien in der gesamten Region verbreitet: über von Saudi Arabien gesponserte Moscheen, Imame, Koranschulen, Universitäten.
Man kann die Auswirkungen des salafistischen, sunnitischen Islam in Afghanisten, Pakistan, im Irak, Syrien, der gesamten Nahost-Region "bewundern". Nicht zuletzt im "Islamischen Staat", wo das Leben eines Ungläubigen nichts wert ist. Das Leben einer ungläubigen Frau auch nicht, sie wird im "Islamischen Staat" wie Vieh behandelt.
Und da schreiben Sie, Frau Topcu, dass die schleichende Islamisierung der Türkei kein Problem wäre? Dass selbst die Liberalen Erdogan anfangs zugetraut hätten, dass er nicht die Unterdrückung der Andersdenkenden wolle, wo dies für jeden, der den Werdegang ERdogans verfolgt hat, ersichtlich war?
Erdogan hat von Anfang an auch Kämpfer des "Islamischen Staates" unterstützt und in der Türkei medizinisch behandeln lassen. Aktuell bombardiert er eher die PKK als den IS.
Sicher, Sie wollen den "Türkeikritikern" keine Nahrung liefern. Aber die Islamisierung der Türkei ist durchaus ein Problem.