Vier Tage nach den Anschlägen von Zaventem und Maelbeek: Der Rauch der Explosionen hat sich verzogen. Dafür hängt über Brüssel nun ein dichter Nebel aus Fragezeichen. Auch dank der jüngsten Razzien und Festnahmen in verschiedenen Stadtteilen kommen immer mehr Details über das französisch-belgische Dschihadisten-Joint-Venture ans Licht. Allein: Der festgenommene Salah Abdeslam mag nicht mehr reden, Politik und Sicherheitsapparat streiten darüber, wer den späteren Selbstmordattentäter Ibrahim El Bakraoui nach seiner Abschiebung aus der Türkei aus den Augen verloren hat und warum das Netzwerk in Molenbeek, Schaerbeek und Forest nicht längst zerschlagen wurde.
Seit den Anschlägen in Paris im vergangenen November lebte auch die belgische Bevölkerung in einem permanenten Zustand der Alarmbereitschaft. Die Behörden waren aufgeschreckt, hastig wurde Polizei und Justiz ein Zuschuss von 400 Millionen Euro gewährt, ihre Befugnisse ausgeweitet und Dutzende Wohnungen durchsucht. Verhindert hat es die Anschläge vom Dienstag nicht. Steuerte Belgien also sehenden Auges auf diese Katastrophe zu?
So einfach ist es nicht. Als Anfang 2015 in Verviers eine Terrorzelle entdeckt und ausgehoben worden war, hatten die Ermittler offenbar einen Anschlag verhindert. Zumindest gab es deutliche Anzeichen dafür, dass die festgenommenen Extremisten kurz vor der Verwirklichung ihrer Pläne standen. Wer also Leichtsinn und Schludrigkeit generell für konstituierende Merkmale belgischer Terrorbekämpfung hält, macht sich nur mit den Freunden des aktuellen Belgium-Bashings gemein.
Vielmehr dürfte das Land nun den Preis dafür bezahlen, dass man schon seit Langem auf dem islamistischen Auge blind gewesen ist. Warnungen vor Terroristen, die in Belgien geboren und dort in schwierigen Verhältnissen sozialisiert wurden, gab es bereits vor 2013, als die Sorge vor dem Dschihad-erprobten Syrien-Rückkehrer auch die belgische Politik erreichte. 2006 etwa erschien das Buch Undercover in Klein-Marokko der Journalistin Hind Fraihi, die während ihrer zweimonatigen Recherche in Molenbeek zusehends religiösem Fanatismus begegnete. Und ein Jahr zuvor hatte sich im Irak erstmals eine Frau aus dem Westen in die Luft gesprengt: die Konvertitin Muriel Degauque aus Charleroi.
Belgien kreist um sich selbst
Dass die Alarmsignale in Belgien wenig Widerhall fanden, liegt nicht zuletzt an der schweren innenpolitischen Krise, in der das Land damals steckte. Als in Syrien 2011 die Proteste begannen, war man gerade auf dem Weg zum Weltrekord, was die längste Zeit ohne Regierung angeht. So tief war der Graben zwischen den Sprachgruppen, dass, so die Zeitschrift Knack, Politik und Öffentlichkeit mehr Energie in die Ausgestaltung des Wahlkreises gesteckt zu haben scheinen als in das Vorhaben, "eine diverse Gesellschaft zusammenzuhalten". Mehr als eine Legislaturperiode kreiste Belgien um sich selbst, unterteilt in einen flämischen und einen frankophonen Block mit enormen Zentrifugalkräften.
Auch die internationalen Journalisten lernten die besonderen belgischen Verhältnisse in den vergangenen Monaten kennen. Verdutzt blickten sie auf die komplexen Brüsseler Strukturen, auf die 19 Kommunen und sechs Polizeizonen, jede ausgestattet mit je eigenen Zuständigkeiten. Allein dies war Anlass für heftige Kritik an den belgischen Behörden.
Andere wie Hans Bonte, einst Sozialarbeiter in Molenbeek und heute sozialdemokatischer Bürgermeister des Brüsseler Vorstädtchens Vilvoorde, werfen Polizei und Justiz zudem vor, die vielen Verbindungen zwischen Extremisten- und Kriminellenmilieu nicht ausreichend genug geprüft zu haben. "Der Terrorismus agiert an der Kreuzung von Radikalisierung und organisierter Kriminalität", sagt Bonte. "Da müssen wir ansetzen." Lästige Schulddebatten würden das Land nicht weiterbringen, wohl aber der bessere Austausch von Informationen und Erkenntnissen, Hinweisen und Fakten.
Und auch ein anderes Vorhaben wartet weiter auf seine Umsetzung: das Großreinemachen von Innenminister Jan Jambon in Molenbeek und den angrenzenden Kommunen. Haus für Haus sollten die Bewohner identifiziert werden. Warum dies noch nicht passiert sei, wurde auch Johan De Becker, der Polizeichef der Zone Brüssel-West, gefragt. Seine Antwort dürfte auf die eigentlichen, sozialen und gesellschaftlichen Probleme des homegrown terrorism hindeuten: "In Molenbeek wohnen 95.000 Menschen", so der Polizeichef. Es sei unmöglich, jedes Haus zu kontrollieren. "Jährlich schreiben sich 8.000 neue Bewohner ein, und manchmal ziehen sie bis zu vier, fünf Mal im Jahr um – der Zustand ihrer Wohnung ist einfach zu schlecht."
Kommentare
Ermittlungstechnische Schlampigkeiten wie in diesem Fall lassen die neuen Forderungen nach weniger Privatsphäre und mehr in Europa vernetzter Überwachung als den Gipfel des Zynismus erscheinen.
Entfernt. Bitte verzichten Sie auf Pauschalisierungen und Unterstellungen und belegen Sie ihre Aussage mit Quellen. Die Redaktion/ee
"Vielmehr dürfte das Land nun den Preis dafür bezahlen, dass man schon seit Langem auf dem islamistischen Auge blind gewesen ist."
Wieviele "Rückkehrer" (die Kontakt zu Terrornetzwerken im Ausland hatten, eine Ausbildung erhielten oder gar kämpften/mordeten/...) gibt es denn in Deutschland bzw. Europa?
Hunderte bzw. Tausende? Wieviel Prozent davon sitzen im Gefängnis oder sind unter intensiver Beobachtung? ...
Zu sehr sollte man sich hier oder andernorts besser nicht aus dem Fenster lehnen und der belgischen Staatsführung/Sicherheitsapparat Unfähigkeit, Untätigkeit etc. vorwerfen.
"Berlins islamistische Szene wächst sehr dynamisch"
Die deutsche Hauptstadt ist eine Islamisten-Hochburg, 360 gewaltbereite Salafisten leben dort – und ihre Zahl nimmt zu."
Realistisch betrachtet wird gegen diese Szene auch in Deutschland wenig bis gar nichts getan.Es regiert die Hilflosigkeit. Nach dem ersten Anschlag wird das Geschrei dafür um so größer sein. Als "Entschädigung" erhält der Bürger dafür einen Extra ARD Brennpunkt. Die Laschheit & das Unvermögen der Behörden ist zum Teil himmelschreiend.
http://www.welt.de/politi...
Und nicht fehlen dürfen hier wieder die "schwierigen sozialen Verhältnisse".
War aber nicht einer der Typen sogar an einer katholischen Uni?
Soziale Verhältnisse, Fehler der Polizei, das ist alles nicht des Pudels Kern!
Dieser ist der radikale Islam, – der vom Bauern im Jemen oder Nigeria, bis zum Akademiker in Saudi Arabien oder Europa quer durch alle Schichten geht.
Ständig wird direkt oder indirekt suggeriert dass wir nur noch mehr soziale Förderung bieten müssen oder noch cleverer beschatten, – das halte ich für sehr problematisch, weil die richtige Beschreibung des Problems lebenswichtig ist.
Wir wollten von Schweden nicht lernen, aus Frankreich nicht schlau werden und auch aus eigenen Erfahrungen keine Rückschlüsse ziehen.
Ignoranz kann gefährlich sein und von Toleranz zur Ignoranz ist es manchmal nur ein Hüpfer in einem düsteren Tunnel.
"Vielmehr dürfte das Land nun den Preis dafür bezahlen, dass man schon seit Langem auf dem islamistischen Auge blind gewesen ist."
In Deutschland gibt es hunderte Syrien-Rückkehrer und eine breite Salafistische Szene. Auf welchem Auge sind denn die deutschen Politker und Behörden blind?
Wer im Glashaus sitzt...
Ich werde meinem Abgeorneten eine gelbe Armbinde mit 3 schwarzen Punkten drauf häkeln und nen weißen Stock dazu legen.
Oder ist das eine Diskriminierung von Sehbehinderten?