Jeremy Corbyn pflügt durch die Masse der Wartenden wie ein Schwimmer, der durch ein aufgepeitschtes Meer krault. Menschen schütteln ihm die Hand, berühren seine Schulter, drücken ihm rote Rosen und Teddybären in die Arme. 300 Menschen empfangen ihn im Vereinshaus der Bergarbeitergewerkschaft des nordenglischen Städtchens Barnsley für diese Wahlkampfveranstaltung Mitte September. 300 weitere harren vor der Tür aus. Corbyn, Chef der britischen Labour-Partei, lässt sich von der Woge auf das Podium tragen und nimmt dort Platz, wo er sich am wohlsten fühlt: ganz links außen.
Mit ihrer gewölbten Decke, den roten Stoffbannern und den heroischen Darstellungen von Kohlekumpeln wirkt die Halle wie eine Kulisse aus den siebziger Jahren. Doch Corbyn ist für seine Unterstützer ein Versprechen für die Zukunft. Er gibt ihnen den Optimismus zurück, der verloren schien, seit Margaret Thatcher ihnen Mitte der achtziger Jahre ihre Gruben, ihre Arbeit und ihre Würde nahm. Kein anderer Politiker in diesem Land bewegt so viele und so unterschiedliche Menschen wie dieser unauffällige weißhaarige Mann. Seit der ewige Hinterbänkler vor einem Jahr überraschend zum Labour-Vorsitzenden gewählt wurde, hat sich die Mitgliederzahl der Partei auf 640.000 verdreifacht.
Während Sigmar Gabriel immer öfter betonen muss, dass seine SPD noch Volkspartei sei, und der französische Sozialist François Hollande mit jeder Woche unbeliebter wird, hat Jeremy Corbyn ein Wunder vollbracht: Er hat Labour zur mitgliederstärksten Partei Europas gemacht. Nun wurde er gerade mit 61,8 Prozent der Stimmen als Parteichef wiedergewählt. Als das Ergebnis am Samstagmittag vor der versammelten Partei in Liverpool verkündet wurde, spielten die Organisatoren den Popsong Happy von Pharrell Williams ein. Die Gesichter vieler Abgeordneter aber waren lang. Corbyn ist so mächtig wie umstritten. Wie verkraftet die Partei seinen Linkskurs? Wie hält er es mit Europa? Und wieso begeistert er mit seinen 67 Jahren ausgerechnet junge Menschen so sehr?
Vietnam-Krieg, Apartheid, Palästina
In einem Film könnte Corbyn, geboren 1949 im südenglischen Chippenham, wahlweise den netten Onkel oder den zerstreuten Literaturprofessor spielen: immer zu spät, immer in denselben braunen Tretern. Oft wird er mit dem 75-jährigen amerikanischen Sozialisten Bernie Sanders verglichen, doch im Gegensatz zu ihm hat Corbyn eine Partei übernommen. Alte Freunde beschreiben ihn als jemanden, der schon immer Vegetarier war, jede noch so kleine Kampagne unterstützte und abends lieber Flugblätter kopierte, statt im Pub zu trinken.
Die Themen, für die er auf die Straße ging, lesen sich wie eine Archivübersicht von Amnesty International: Stoppt den Vietnam-Krieg, Schafft die Apartheid ab, Nieder mit Thatcher, Freiheit für Palästina, Gleiche Rechte für Schwule und Lesben, et cetera. Als seine zweite Ehefrau – ein Flüchtling aus Chile – den gemeinsamen Sohn auf eine Privatschule schicken wollte, protestierte er erbittert. Die beiden ließen sich scheiden. Vielleicht ist es dieser Rigorismus, der heute viele Briten an Corbyn fasziniert.
Corbyn, seit 1983 Abgeordneter, hält noch heute an den Positionen fest, für die er seit Jahrzehnten auf die Straße geht: Er glaubt, dass Bahn, Strom- und Wasserversorgung wieder verstaatlicht werden sollten. Er will die Studiengebühren abschaffen und die Steuern für Reiche erhöhen. Er betrachtet die USA als imperialistisch und Israel als Besatzungsmacht. Er will die britischen Atomwaffen abschaffen und fordert eine Welt ohne Krieg. Er ist, kurz gesagt, gegen fast alles, was man heutzutage unter Realpolitik versteht.
Als seine Parteifreunde Tony Blair und Gordon Brown an der Macht waren, stimmte er 428 Mal gegen die eigene Regierung. Corbyn ist also ein Meister der Polarisierung. Was sagen die, die ihn schon lange kennen? Lindsey German, Jahrgang 1951, erinnert sich noch gut daran, wie sie mit Corbyn und anderen Aktivisten die Stop-The-War-Koalition gründete: "Unser größter Protest war die Demo am 15. Februar 2003. Zwei Millionen Menschen kamen, um gegen die Invasion im Irak zu demonstrieren, so eine Bewegung hatte es noch nie gegeben. Die Blair-Regierung hielt trotzdem einen Monat später eine Abstimmung im Parlament ab, zwei Tage später marschierten die Truppen im Irak ein. Es ist einer der Gründe, warum Jeremy heute so erfolgreich ist: Viele Leute kennen ihn von früher. Und sie wollen eine andere, radikalere Politik."
Mit Corbyn kehrt eine alte Frage zurück, die die moderne Linke überwunden glaubte: Regierung – oder Radikalopposition? So wie Trump die Wut der Rechten abschöpft, so profitiert Corbyn von der der Linken. Antikriegsaktivisten, Marxisten und andere Leute, denen die Partei in den vergangenen Jahren "zu moderat" war, sind unter Corbyn beigetreten.
Es steckt etwas Verlockendes in diesem Protestpolitiker: Während Sigmar Gabriel seine eigenen Leute mit seinem Zickzackkurs verwirrt, kämpft Corbyn seit 40 Jahren mit den immer gleichen Slogans gegen den Kapitalismus. Während Hillary Clinton sich als Kriegstreiberin beschimpfen lassen muss, ist und bleibt Corbyn Pazifist. Während Tony Blair auf der Hass-Skala der britischen Linken ungefähr gleichauf mit Margaret Thatcher liegt, hat Corbyn jede Menge street credibility, Glaubwürdigkeit beim einfachen Bürger. Er ist die Erlöserfigur für all jene, die sich seit 20 Jahren von der Modernisierung der Sozialdemokratie – den Antiterrorgesetzen, den wirtschaftsfreundlichen Reformen, den gewonnenen Wahlen – nicht erholt haben. Und weil er stur, bescheiden und unverstellt ist, begeistert Corbyn gerade die, die sich von Politikern sonst oft genervt abwenden: die Jungen.
Kommentare
Es ist mir bis heute leider noch nicht gelungen, in der ZEITeinen Artikel über J.C. zu finden, der sich der Ausgewogenheit rühmen könnte.
Vielleicht kann mir jemand helfen? Danke.
Ist schon eine Weile her, aber Sie - carmat - fragten nach einem ausgewogenen Artikel zu Corbyn: http://www.zeit.de/politik/a…
ich wohne hier in UK; Corbyn is ein Phänomen in so vieler Hinsicht: Er kann keine Reden halten, was er sagt, ist nichts außergewöhnliches, er bietet Politik Lösungen an, die in Deutschland längst Gesetz sind (wie die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall z.b) und trotzdem kommen wie in Liverpool 20000 Leute zu seinen Kundgebungen (bei strömenden Regen). Wären nicht fast 200.000 Mitglieder bzw. Unterstützer der Labour Party von der Wahl (meist mit dubiosen Begründungen) abgehalten worden, hätte sein Zustimmungswert über 70% betragen. Die Revolution findet übrigens über das Smartphone und die Social networks statt, man wartet nicht eine Woche, bis dort der Guardian einem die etablierte rechte britische politische Weltsicht erklärt, sondern zerfleddert all die Kritik an Corbyn und CO innerhalb weniger Minuten. Und was die Autorin hier über "Real Politik" kundtut, ist in Wirklichkeit die Aufgabe von (linker) Politik, die ihre einzige Funktion darin hat, die Lebensbedingungen der Masse durch Reformen zu verbessern (und was ja auch das Erfolgsgeheimnis sozialdemokratischer Parteien seit ihrer Entstehung ist). New Labour und Schröder haben diesen Reformweg leider verlassen und ihre Parteien bis Corbyn kam auch entsprechend überflüssig und unwählbar geworden.
Glaubt das (na ja) mondäne, moderne und (noch) liberale (Klein-)Bürgertum im Ernst, seine Interessen und Positionen könnte bewahrt werden im Abklatschen von Politikern wie Corbyn oder Sahra Wagenknecht? Von wem eigentlich? Von Merkel und Gabriel oder gleich von Frauke Petry?
Glauben und Nichtglauben - sind das nicht Sachen der Religion?
Klein- und Großbürgertum: das Willkürverbot des Artikel 3 GG, steht es nicht dagegen?
Nicht Abklatschen, sondern Teilhabe ist das Gebot der Stunde:
Seinen Teil der VerANTWORTung (in die eigene Hand) nehmen, um gemeinsam eine europaweite Bewegung zu initiieren. Um mit charismatischem Führungspersonal die Werte der europäischen Grundrechte zu verwirklichen. Gegen die neoliberale "Gläubigkeit" der letzten 30 Jahre, die eine Spaltung der Gesellschaft verursachte, mit aufkeimenden gefährlichem Potential für unsere ´freiheitliche demokratische Grundordnung ´(--> googeln).
Wer zu Frauke Petry und der AfD tendieren möchte, lese bitte zuerst:
Sebastian Haffner, Die Geschichte eines Deutschen, Erinnerungen 1914-1933
Dessen erhellender Bericht ist akuteller denn je ...
Seltsamer Artikel der stets bemüht ist zu zeigen wie realitätsfremd Corbyn ist.
"Er ist, kurz gesagt, gegen fast alles, was man heutzutage unter Realpolitik versteht."
Mal kurz zu den Beispielen. Die USA ist imperialistisch, was ist daran falsch? Demokratisches Regime in Chile gestürzt, ironischer weise auch an einem 9/11. Demokratisch gewählten Präsidenten im Iran gestürzt, Drohnenangriffe im Ausland ohne jegliche Rechtsgrundlage, Weltsicherheitsrat belogen und in den Irak einmarschiert und den Korea Krieg vom Zaun gebrochen, um nur mal ein paar Beispiele zu nennen.
Was hat uns diese Realpolitik den gebracht, der Nahe Osten steht in Flammen und IS und AlQuaida breiten sich aus. Im Iran regieren jetzt die Mullahs und in Chile gab es hunderttausende Tote.
Was bringt den die Privatisierung der Bahn und der Wasserwerke? Was bringt generell die Privatisierung von Systemen in den marktwirtschaftlicher Wettbewerb gar nicht möglich ist. Aus wie viel Wasserwerken kann ich den mein Wasser kaufen. Richtig, genau einem, was bringt da Privatisierung. Nix!
Wer mal ein gut ausgebautes Schienennetz und pünktliche Züge haben will muss mal zu den Kommunisten in die Schweiz fahren. Die SBB ist um Längen besser als die deutsche Bahn. Die Schweiz schafft es den längsten Tunnel pünktlich und ohne Mehrkosten zu bauen. Die Deutsche Bahn kann das nicht einmal bei einem Bahnhof (S21).
Was ist Israel im Westjordanland, wenn keine Besatzungsmacht?