Es ist 1995, wenige Tage noch bis zur Präsidentschaftswahl. Ich habe um einen großen Tisch meine Studenten versammelt, für ein Abendessen; zwei Dutzend junge Menschen. Das Gespräch gleitet schnell ins Politische. "Eines beruhigt mich", sage ich. "Unter all meinen Studenten gab es nie einen, der den Front National wählt." Kaum habe ich den Satz ausgesprochen, unterbricht mich eine Stimme, "Sie irren sich, Professor!" Einer meiner besten Schüler blickt ihn von der anderen Seite des Tisches an: "Ich wusste nur, mich zu verstecken."
Über 20 Jahre ist das her. Der FN war noch Tabu, selten hörte man Bekenntnisse zum Front National, in universitären Milieus waren sie gänzlich undenkbar. Doch dieser junge Mann traute sich. Seine Deklaration war so unangebracht, so fremd, dass sie mich und die Gruppe verblüfft zurück ließ.
Heute würde es kaum jemanden mehr überraschen. Anhänger des Front National, mittlerweile Millionen, verstecken ihre rechtsextremen Sichten nicht mehr. Sie tragen sie stolz vor der Brust. Die Riegel und Schranken sind gefallen. Wie konnte es passieren, dass die Anhängerschaft zu einer rechtsextremen, nationalistischen, fremdenfeindlichen Partei heute kaum mehr jemandem die Scham ins Gesicht spült?
Die Erklärung dafür findet sich in vier Entwicklungen. Die erste ist die historische Vergesslichkeit. In den 1980er-Jahren war es den Wählern bewusst: Der Front National steht in der Tradition der dunkelsten Kapitel französischer Geschichte. Wie Jean-Marie Le Pen, der Gründer des FN, über den Zweiten Weltkrieg sprach, wie er den Holocaust als "historisches Detail" bezeichnete, seine antisemitischen Auslassungen: All das war den Franzosen bekannt – auch seinen Anhängern. Le Pen hatte nicht nur Sympathie mit dem État français (1940-1944) von Marechal Pétain, er teilte auch die Werte von dessen "Nationaler Revolution". Den Wählern war Le Pen ein leidiger Wiedergänger einer faschistischen Garde, wie die der 1930er-Jahre, ultranationalistisch, aufrührerisch und gewalttätig.
Diese Historie ist heute vergessen. Zum einen weil seine Tochter, Marine Le Pen, das Geschick bewiesen hat, ihre Ideologie in neue Kleider zu hüllen, ohne auch nur ein Stück dieses Erbes aufzugeben – sichtbar in den Seilschaften des FN mit neonazistischen Parteien und Organisationen in ganz Europa. Zum anderen aber, weil für einen bedeutenden Teil ihrer Wählerschaft diese Geschichte zu weit entfernt ist. Sie drängt nicht mehr, sie interessiert nicht mehr und die ideologischen Wurzeln, die vorangegangenen Generationen noch wie Vogelscheuchen vor dem FN warnten, lassen jene, die sie nie kennen gelernt haben, kalt.
Doch allein das hätte den Front National nicht an diesen Punkt gebracht, wo er heute steht. Im zweiten Wahlgang, genau das, wo er schon vor 15 Jahren im Gespräch mit meinen Studenten, stand. Das, was sich seit diesem Gespräch grundlegend geändert hat, ist, dass der Boden, auf der der FN sich von Beginn an wohl fühlte – der Fremdenhass, der Islamhass, der Europahass – nun auch von anderen bespielt wird. Und dass der Stil, der einst dem FN eigen war – die karikaturhafte Vehemenz, die verbale Gewalttätigkeit, die Einteilung der Menschheit in gut und schlecht –, heute nicht mehr nur vom rechten Rand genutzt wird.
Der größte Erfolg des Front National war es, alle anderen politischen Schulen anzustecken, mit seinen Ideen, seinen Formen und seinen Diskursen. Als erstes, der Gaullismus.
Mit Nicholas Sarkozy übernahm die bürgerliche Rechte die identitäre Rhetorik und den Nationalismus des Front National. Renommierte Intellektuelle, wie Alain Finkielkraut, der einer Sympathie für den FN unverdächtig ist, haben die Ideen der Rechtsextremen behandelt, später banalisiert und ihnen so eine ihr nicht zustehende Legitimität gegeben.
Kommentare
"Die Mystik des Unverbrauchten"
Im Grunde genommen ist die FN eine zutiefst etablierte Partei.
Schon seit Jahren trägt sie auf regionalen Ebenen wichtige Verantwortung.
Und national ist sie die wichtigste Opposition. Die verkrustete Strukturen aufbricht und bequeme Gewohnheiten in Frage stellt.
Insofern ist das "Unverbrauchte" durchaus als Lob zu verstehen.
"Im Grunde genommen ist die FN eine zutiefst etablierte Partei."
Soweit stimme ich Ihnen zu. Der/die FN wird von einer Frau geleitet, die ihr ganzes Leben nur Berufspolitkerin war, Tochter eines Berufspolitikers. Sie ist in diverse finanzielle Skandale verwickelt, gegen Tochter und Vater wird wegen Steurbetruges emittelt. Jetzt hat sie sich gerade die Unterstützung einer kleineren Partei für viel Geld (Rückerstattung der Wahlkampfkosten) erkauft.
Alles, was an "etabliert" anrüchig ist, verkörpert die FN völlig.
Entfernt. Bitte bleiben Sie beim Thema des Artikels. Die Redaktion/rg
Ja, der radikale Islam ist eine große Gefahr für die innere Sicherheit Deutschlands und Europas.
Darum geht es hier aber nicht. Dieser Gastbeitrag handelt von der Gefahr, die durch den FN ausgeht.
Darüber kann man diskutieren. Man kann der Meinung sein, von dem FN ginge keine Gefahr aus, man kann auch gegenteiliger Meinung sein.
Aber das Thema zu wechseln ist irgendwie mies.
... und nicht nur in Form von "Reden"
Schnell mal zwei Kommentare auf der ersten Seite gesichert.
Marc Crepon:
..... lehrte Marc Crépon die Philosophie an der Nanterre Universität, bevor er zwei Jahre lang in die UdSSR wechselte. Dieser erweiterte Auslandsaufenthalt beeinflusste stark seinen pädagogischen Ansatz und philosophische Reflexionen, in denen er die meisten seiner Ideen über die Beziehungen zwischen politischen und sprachlichen Gemeinschaften entwickelte.
Der Pariser Philosoph Marc Crépon spricht sich dafür aus, jedem Geflüchteten das Recht zur Aufnahme zuzugestehen. Man sollte dem Fremden „ganz einfache, bescheidene Dinge“ zugestehen, die zugleich lebenswichtig sind: Schutz, Arbeit und Leben. Das gehöre zum „Minimum menschlicher Existenz“. Politiker sollten sich bewusst machen, dass ein Ja oder ein Nein zur Aufnahme der Flüchtlinge zugleich eine Entscheidung über Leben und Tod sei.
Nunja.
Der FN kooperiert auch nicht mit neonazistischen Parteien.
Das wäre der Fall, würde er mit Parteien wie der NPD, Jobbik oder der Goldenen Morgenröte zusammen arbeiten.
Tut er aber nicht.
Deshalb sollte Herr Crepon bitte unwahre Behauptungen. Am FN gibt es genug zu kritisieren.
Aber gut, wer sehr weit links außen steht, für den ist alles rechtsextrem.