"Normalerweise
hat unser Kandidat keine Chance", sagen Mamadou Traoré, 22, und
Farid Bang, 19. Mamadou ist Schwarzer, Farid arabischer Herkunft. Die beiden Lieferwagenfahrer sitzen bei nordafrikanischem Minztee auf der Terrasse des Pub West in der berüchtigten Pariser
Migranten-Vorstadt Les Mureaux. Neben dem Pub liegen der Supermarkt, eine Kebab-Bude und Sozialwohnungen.
Beide sind sie hier geboren. Mamadous Familie stammt ursprünglich aus Mali, Farids aus Marokko – ihre Namen verraten das noch. Doch sie, die Jungen, kennen nur die Vorstadt: Arbeitslosigkeit, Drogen, Polizeikontrollen. Aber auch: Schule, Mindestlohn, Bürgerrechte und jetzt die Wahlen. "Ich habe seit meinem 18. Geburtstag keine Wahl ausgelassen", sagt Mamadou. Dabei habe er noch nie für einen Wahlsieger gestimmt, sondern immer nur für linke Verlierer. Das könnte sich am kommenden Sonntag ändern: "Wir wählen Mélenchon", sagen Mamadou und Farid einstimmig.
Tatsächlich erscheint der Präsidentschaftskandidat der französischen Linksfront, Jean-Luc Mélenchon, gerade wie der Mann der Stunde bei diesen Wahlen. Er hat gewaltig aufgeholt und liegt seit ein paar Tagen gleichauf in den Umfragen mit den drei anderen aussichtsreichen Kandidaten: der rechtsextremen Marine Le Pen, dem liberalen Emmanuel Macron und dem konservativen François Fillon.
Mamadou und Farid bleiben cool. Politik ist ihrer Meinung nach nichts, was ihnen im Leben Vorteile bringen kann. Aber immerhin sagen sie: "Einer muss es machen." Warum also nicht ihr Kandidat, Mélenchon?
"Er
ist ein echter Führer, einer der die Leute zusammenbringt", sagt
Farid. Er hat sich alle Fernsehdebatten der Kandidaten angeschaut.
Das war mühsam, sie dauerten jeweils über drei Stunden. Seither
steht sein Urteil fest: "Mélenchon hat deutlich erklärt, was er
machen will. Die anderen sind nicht aus sich herausgekommen. Sie
hatten keine neuen Ideen. Als hätten sie sich nicht genug auf die
Wahlen vorbereitet", sagt Farid und liegt damit im Kern durchaus
nah bei der Analyse vieler professioneller Beobachter, für die Mélenchon heute die große Überraschung auf der Zielgeraden des
Wahlkampfs ist.
Genau
das aber würde man im Pub West nicht vermuten: politische
Expertise. Eher schon Prügeleien.
"Die Republik ist das Gesetz"
Kneipenwirt Nassim, der die Bar
vor vier Jahren mit seinem älteren Bruder Morad übernahm, saß seit
seinem 18. Lebensjahr wiederholt wegen Drogendelikten für viele Jahre im Gefängnis. Doch heute ist Nassim Mitte dreißig, hat drei
kleine Kinder und will ordentlicher französischer Staatsbürger
sein: "Die Republik, das ist für mich zuerst das Gesetz, aber auch
ein Lebensrhythmus. Dazu gehören Rechte und Pflichten. Und Wählen
ist beides", sagt Nassim. Hinter ihm am Fernseher seiner Bar, der
meistens Fußball zeigt, hängt beides: eine französische und eine
marokkanische Nationalfahne.
Nassims Eltern kamen in den 1960er Jahren aus Marokko nach Frankreich. Der Vater fand jung Arbeit in einer Autofabrik. Jetzt lebt er als Rentner wieder in Marokko, doch seine Söhne können die Wahlen in Frankreich mitentscheiden. Sieben Millionen eingebürgerter Migrantenkinder zählt das Land. Das sind viele Stimmen. "Wir haben kein Recht auf einen Fehler", warnt Nassim. "Frankreich spielt immer noch Champions League." Damit meint er Frankreichs Position als fünftgrößte Volkswirtschaft der Welt. Die gelte es zu erhalten. Nassim wählt deshalb die Sozialisten, die für ihn in den letzten Jahren gut regiert haben, auch wenn ihr Kandidat, Benoît Hamon, bisher blass geblieben ist.
An Nassims Bar steht der 65-jährige Ali M’Hamed. Er wohnt seit 1980 in
Les Mureaux. "Damals war hier niemand", erzählt M’Hamed und
zeigt auf das Viertel voller Menschen vor ihm, die am frühen Abend
einkaufen oder einfach nur auf der Straße lungern. "Unser Problem
ist die Arbeitslosigkeit, wir sind zu viele hier." Er weiß, dass
über zwanzig Prozent der Schulabgänger in seiner Stadt keine Arbeit
finden. "Die guten gehen weg, viele ins Ausland", sagt M’Hamed.
Die, die bleiben, sitzen im Pub West oft den ganzen Tag auf der
Terrasse. Wie Mamadou und Farid lassen sich die meisten von ihnen
leicht auf den Wahlkampf ansprechen. Und jeder von ihnen hat einen
Lieblingspräsidenten: Mal ist es der alte Pompidou, mal Mitterrand,
aber meistens macht Jacques Chirac das Rennen. Der sei kein
Rassist gewesen und habe das Format gehabt, sagen viele. Vor allem kennen ihn
die meisten noch.
Die beiden jüngsten französischen Präsidenten, Nicolas Sarkozy und François Hollande, aber erwähnt auch das junge Vorstadtpublikum nicht. Damit folgt es dem allgemeinen Wählerempfinden, wonach die französische Politik in den vergangenen zehn Jahren versagt hat. Kneipenwirt Nassim mit seiner Vorliebe für die regierenden Sozialisten ist in Les Mureaux also eher eine Ausnahme. Doch in einem sind sich im Pub West alle einig: "Wir müssen Le Pen verhindern", sagen sie. Als wäre das die erste Bürgerpflicht.
Es
ist wohl auch der Grund, warum niemand in der Bar über den
konservativen Kandidaten François Fillon und seine vielen Affären
redet, die lange Zeit das beherrschende Wahlkampfthema waren. "Für
uns bleibt die Rechte immer Le Pen und nichts anderes", erklärt
Nassim mit einer Selbstverständlichkeit, als spräche er für seine
Gesamtkundschaft. Die trinkt den ganzen Tag fast nur Tee und Kaffee,
denn sie besteht vornehmlich aus Muslimen. Doch schenkt Nassim auch
Alkohol aus, Pastis zum Beispiel. "Tödliches Zeug" nennt er das
traditionelle französische Aperitif-Getränk.
So zeigt sich auch, dass sich Frankreichs politische Sitten den Migrantenkindern leichter vermitteln als andere. "In Frankreich trinkt man Wein, wenn man Lust hat", wetterte Le Pen bei ihrem großen Pariser Wahlkampfauftritt am Montagabend. Das war gegen die französischen Muslime gerichtet. Nassim und seine Kunden im Pub West aber werden deshalb erst recht zur Wahl am nächsten Sonntag gehen.
Kommentare
Auf Wunsch des Verfassers entfernt. Die Redaktion/dg
Ein Wahlsieg von Mélenchon wäre sehr "interessant", wenn man sich sein Wahlprogramm bzw. seine Äußerungen anschaut.
Könnte im Extremfall zu zwei Blöcken in der EU führen. Auf der einen Seite die "Südländer" unter Führung Frankreichs in Konfrontation zu den "Nordländern", angeführt von Deutschland.
Das wäre es dann mit dem "deutsch-französischem Tandem".
"Könnte im Extremfall zu zwei Blöcken in der EU führen. Auf der einen Seite die "Südländer" unter Führung Frankreichs in Konfrontation zu den "Nordländern", angeführt von Deutschland."
Ha'm wir doch schon. Damit würde lediglich das quasi institutionalisiert, was sich bereits informell manifestiert hat: eine Europäische Union ohne jede gemeinsame werthaltige Substanz und Perspektive. Es wäre ein weiterer Schritt in Richtung auf ein Ende der EU.
Und da Deutschland erkennbar nicht zu wirtschaftspolitischer Vernunft zu kommen gedenkt, egal, ob mit Merkel oder Schulz als Kanzler/in, wird dieser Prozess auch von hier aus weiter vorangetrieben werden.
Hm, "politische Expertise"? Mélenchon würde sowohl die EU als auch Frankreich ruinieren, seine Rezepte wurden so ähnlich 1981 schon unter Mitterrand und Mauroy ausprobiert - und führten nur zu einer explodierenden Staatsverschuldung, Finanzkrise und enormen Arbeitslosenzahlen.
Und das war nur ein leises Lüftchen dagegen, wenn diesmal die EU mitscheitert - ein Kurswechsel zurück zu einer realistischen Politik ist dann sehr viel schwieriger und gerade für Armen auch schmerzhafter.
Aber klar, dann kann man natürlich immer noch wieder auf die Straße gehen und die Stadt anzünden - bei soviel "politischer Expertise". Wo wir dann doch wieder bei den Prügeleien wären.
Könnten Sie mir bitte auf die Sprünge helfen?
Was waren denn, gerne stichwortartig, die ruinösen Maßnahmen, die schon unter Mitterrand und Mauroy scheiterten?
...und das Programm von Mélenchon soll vergleichbar mit dem von Mitterand sein.
Ich finde noch nicht einmal eine deutsche Übersetzung.
Dieser dürftige Artikel gibt leider, außer Plattitüden, nicht viel her.
Für Hinweise und Links wäre ich ihnen dankbar.
Die extreme Linke und die extreme Rechte bei über 40%. Vor ein paar Jahren noch undenkbar. Aber sowas passiert nun mal, wenn die Sozialdemokraten sich verkaufen. Griechenland, Spanien, Portugal...überall das gleiche Bild.
"die extreme Rechte bei über 40%. Vor ein paar Jahren noch undenkbar. "
Dafür können Sie sich bei der "extremen Mitte" bedanken!