Ich muss zugeben, für lange Zeit politische Demonstrationen vermieden zu haben. Als Journalist in Polen zu arbeiten, hat für mich immer bedeutet, möglichst objektiv zu sein und politische Ansichten nicht zu zeigen. Aus diesem Grund bin ich fast allen Protesten gegen die PiS-Regierung aus dem Weg gegangen. Doch was die Regierenden am Donnerstag im polnischen Sejm (dem Unterhaus des Parlaments) durchgesetzt haben, hat meine Grenze überschritten. Ich habe mich entschieden, am Protest gegen die Regierung teilzunehmen.
Denn sollte Staatspräsident Andrzej Duda die verabschiedeten Gesetze unterschreiben und kein Veto einlegen, werden Politiker entscheiden, wer Richter in Polens ordentlicher Gerichtsbarkeit bis hin zum Obersten Gericht wird. Das bedeutet: Polen wird zu einem quasiautoritären Staat, wie man ihn aus der Türkei kennt.
Die PiS-Politiker machen keinen Hehl daraus, wie sie die neuen Gesetze nutzen wollen. Jarosław Kaczyńskis Maske ist spätestens vor der Verabschiedung im Parlament gefallen. Er schrie der Opposition zu, sie seien "Kanaillen" mit "betrügerischen Gesichtern", die seinen bei der Flugzeugkatastrophe 2010 bei Smolensk verstorbenen Bruder und damaligen Staatspräsidenten Lech Kaczyński "ermordet haben".
Seit Jahren versucht Kaczyński mit einer Obsession zu beweisen, dass es kein Unglück gewesen sei, sondern ein Attentat auf seinen Bruder – entgegen allen bekannten Fakten. Nun soll offensichtlich die der Regierung unterstellte Staatsanwaltschaft gemeinsam mit den in naher Zukunft neu eingesetzten Richtern seine These beweisen. Das riecht nach Hexenjagd.
Gefährliche Gleichgültigkeit unter jungen Polen
Die Reform findet unter dem Vorwand statt, die "kommunistischen Richter" aus den Ämtern abzuziehen – obwohl das Durchschnittsalter bei den Richtern knapp unter 38 Jahre beträgt und viele sich gar nicht richtig an die Zeiten vor der Wende erinnern können. Die neue Gerichtsordnung ist nicht nur der Regierung dienlich. Sie kann auch den durchschnittlichen Bürger treffen. Wie wird sich ein der Regierung loyaler Richter verhalten, wenn er in einem Verfahren auf einen Andersdenkenden trifft?
Ich fuhr zu der Demonstration und überlegte auf dem Weg, ob sich junge Leute dort zu Wort melden würden. Aus dem Fenster des Busses sah ich ein tragikomisches Bild: Am Gebäude des ehemaligen kommunistischen Zentralkomitees der Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei, die in Polen bis 1989 mit eiserner Faust regierte, saßen viele junge Leute vor einem Café. Entspannt tranken sie ihre Kaffees und wollten anscheinend nichts davon wissen, was gerade passiert. Ob sie wussten, dass sie ihren Eltern, die friedlich gegen die autoritäre kommunistische Staatsmacht gekämpft haben, die Freiheit zu verdanken haben? Und dass man ihnen auch diese Freiheit jederzeit rauben kann, wenn sie die Demokratie nicht pflegen und verteidigen?
Junge Polen wählen rechts
Unter den jungen Polen ist Gleichgültigkeit nicht selten. Seit Jahren ist die Wahlbeteiligung am niedrigsten in der Altersgruppe 18–30 Jahre. Und: Je jünger man ist, desto seltener geht man zur Wahl. Vor den Parlamentswahlen 2015 wollten das nur 47 Prozent der Polen im Alter von 18–21 Jahren tun.
Und wenn die jungen Polen jemanden wählen, sind es die Rechten. Die regierende Partei Recht und Gerechtigkeit hat mit 20,8 Prozent in der Altersgruppe 18–29 gewonnen. Als zweitbeliebteste wählten die jungen Polen die Bewegung Kukiz'15 (19,9 Prozent), die der Rocksänger Paweł Kukiz gegründet hatte. Ihre Reihen sind mit Nationalisten gefüllt, die sich gegen die Aufnahme von Flüchtlingen wehren und von der Islamisierung Europas reden. Drittbeliebteste Partei war KORWiN (16,8 Prozent), deren Anführer, der Europaabgeordnete Janusz Korwin-Mikke, für Nazirufe im Europäischen Parlament bestraft wurde und für seine Aussage bekannt wurde, dass Frauen weniger verdienen sollten, weil sie weniger intelligent als Männer wären.
Kommentare
Was due polnische Regierung beabsichtigt, bereits seit einen Jahren klar.
Deswegen wundert es mich, dass der Journalist erst jetzt "aufgewacht' ist
Noch hat Polen nicht gewonnen.
Mir fehlt der Vergleich. Wie war es vor der EU, wie ist es nach der EU ? Und dies bitte aus Sicht eines Bürgers, d.h. Schule, Studium, Job, Krankenkassenleistungen, Wohnungsnot usw.
Da bin ich mal gespannt ob es einen Punkt auf der positiven Seite gibt, der nicht auf Wunschdenken oder Ideologie basiert. Ich persönlich habe massive Abstriche seit der EU erfahren. Was ich damals ohne Ausbildung verdiente, bekomme ich heute nicht einmal mehr mit einem Studium.
Wie sie korrekt schreiben, gibt es keine Kontrollgruppe. Darum bleibt Frage unbeantwortet wie ihr Gehalt ohne EU wäre. Möglicherweise wäre es noch schlechter.
Die jungen Polen suchen eine neue Identität, raus aus der Bedeutungslosigkeit der weltlichen Wahrnehmung. Dabei gehen sie genauso den Versprechungen und Verlockungen auf den Leim, wie bei uns die AfD hervorbringt. Finanziert und gepuscht von den Alt-Nationalisten.
EU-Bürger zu sein, d.h. Mitglied einer bürokratisch-technokratischen Organisation zu sein, erfüllt die Seele auf Dauer nicht mit Glück.
" Mir fehlt der Vergleich. Wie war es vor der EU, wie ist es nach der EU ? Und dies bitte aus Sicht eines Bürgers, d.h. Schule, Studium, Job, Krankenkassenleistungen, Wohnungsnot usw "
Ich finde interessant das Sie das so schildern. Ernsthaft.
Ich verfolge (quasi zwangsweise...)ziemlich detailliert welche unfassbaren Summen die EU nach Polen schickt mit den absoluten Schwerpunkten: Bildung, Infrastruktur Gesundheitswesen und Wirtschaft. Wo ist die ganze Kohle dann gelandet?
Und: Mag falsch sein, aber war Polen vor dem EU Beitritt nicht faktisch pleite?
Kein Sarkasmus.ernshafte Fragen. Vielleicht haben Sie dazu ja andere oder erhellendere Infos.
Sicher habe ich eine Info für sie. Eine blühende Wirtschaft sagt nichts darüber aus, wie es den Bürgern geht. Sie wohnen im idealen Land für ein Beispiel.