Fassungslos steht man vor der britischen Selbstzerstörung. Ist das noch das Land, von dem wir einst den Common Sense gelernt haben? Dessen politisches Handeln von pragmatischer Vernunft und gelassener Kompromissfähigkeit bestimmt war? Und nun dieser parteiübergreifende Unverstand oder, wie es Philip Stephens in der Financial Times nannte, der "kollektive Nervenzusammenbruch".
Großbritannien erlebt seine schwerste Krise seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Zu verdanken hat die Nation – und hat Europa – dies einer Truppe von Hasardeuren, in Eton und Oxford erzogenen Snobs wie Boris Johnson und Jacob Rees-Mogg, die bis zum heutigen Tag ihre "Spielchen" (Theresa May) spielen, von einem "Global Britain" träumen und am Ende doch nur ein Little England zurücklassen werden.
Nun weiß die britische Politik nicht mehr ein noch aus. Die Premierministerin hat eine in diesem Ausmaß nicht erwartete dramatische Niederlage erlitten, einen geordneten Austritt aus der EU wird es vorerst nicht geben. Es soll aber auch keinen harten (No Deal) Brexit geben, kein zweites Referendum und, wenn es nach den Tories geht, auch keine Neuwahlen. Das von der Labour Party geforderte und schon für den heutigen Mittwoch angesetzte Misstrauensvotum könnte Theresa May durchaus überstehen. Die Regierung dürfte also vorerst weitermachen, obwohl sie auf ganzer Linie gescheitert ist. Ratlosigkeit und Chaos allenthalben.
Ob die EU den Briten hätte weiter entgegenkommen sollen? Möglich, aber es wäre falsch, die Schuld für das Debakel in Brüssel oder in den 27 anderen EU-Hauptstädten zu suchen. Manchmal kann man Gehende wirklich schwer aufhalten. Und die Europäische Union durfte weder an ihren Grundprinzipien rütteln lassen, noch durfte bei anderen Wackelkandidaten der Eindruck aufkommen, es gebe eine Clubmitgliedschaft à la carte.
In all der Trostlosigkeit ist dies der einzige Lichtblick: Die Union hat sich über den Brexit nicht zerstritten, die 27 haben zwei Jahre lang einmütig und geschlossen verhandelt. Möglicherweise war dies für die Befürworter des Brexits die größte Überraschung – sie haben Europa nicht auseinanderdividiert.
Ansonsten aber haben sie ihr Zerstörungswerk gründlich verrichtet. Nicht nur wirtschaftlich wird der Brexit dem Land schweren Schaden zufügen. Auch der Reputationsverlust ist gewaltig. Denn was ist von einer Regierung zu halten, deren Außenminister Jeremy Hunt die EU mit einem "Gefängnis" vergleicht? Deren Verteidigungsminister Gavin Williamson in der Karibik und in Südostasien neue Militärstützpunkte errichten will, weil der Brexit der historische Moment sei, der Großbritannien "wieder zu einem wahrhaft globalen Player" mache?
Es ist diese Illusion von der zurückgewonnenen Souveränität, die sprachlos macht. Wie alle anderen europäischen Länder ist Großbritannien heute eine allenfalls mittlere Macht, die ihren Einfluss in der Welt am besten geltend machen kann, wenn sie als Teil Europas handelt und spricht. Die Sehnsucht nach alter Größe steht in seltsamem Kontrast zum Populismus und Nationalismus, hinter dem sich das Land gerade verbarrikadiert.
Kommentare
Die EU Herr Naß!!!
Richtig, Großbritannien will (und kann) nicht Europa verlassen, sondern eine marktradikale EU, der Unternehmensinteressen wichtiger sind, als die Verbesserung der Lebensqualität ihrer EinwohnerInnen.
Die Geschäfte laufen glänzend, aber vielen EU_BürgerInnen geht es deshalb immer schlechter.
Nirdriglohnsektor, Altersarmut, Deregulierung, Privatisierung, politische gewollte Austerität, wer profitiert denn davon?
Und wenn das britische Parlament nicht in der Lage ist, überhaupt irgendeine Entscheidung zu treffen, dann braucht es auch kein zweites Referendum, sondern schlicht und einfach Neuwahlen.
Zeit, dass Labour die Sache in die Hand nimmt.
Die Tories haben es vermasselt, so einfach ist das.
Soll der Wähler entscheiden, wie das jetzt weitergeht.
Dann hätte man übrigens auch den "trifftigen Grund", den man ja nach Meinung vieler Beobachter bräuchte, um das Austrittsdatum nach hinten verschieben zu können.
Lasst die WählerInnen entscheiden, wie dieses Chaos jetzt weitergehen soll.
Ganz einfach.
Der Schaden, wenn GB noch länger in der EU bleibt ist größer als der Nutzen, (weil man sich sicherlich tatsächlich gegenseitig braucht). GB ist gesellschaftlich und vor allem politisch kaputt.
Die EU ist doch mindestens genau so "kaputt" - und war "gesellschaftlich" noch nie "ganz".
Na ja, nicht nur GB agiert merkwürdig - man hätte sich gewünscht, dass es in der EU auch so etwas wie einen "Common Sense" gibt.
Hier wurde nicht vernünftig und partnerschaftlich ein Vertrag ausgehandelt - auch die EU hat unmögliche Bedingungen gestellt und link verhandelt um anderen potentiellen "Austrittstätern" gleich mal die Kante zu zeigen für den Fall, dass man nicht freiwillig bleiben will in einem künstlichen Konstrukt - was ziemlich weit weg von der ursprünglichen Idee der EU ist.
Der Autor hat insofern recht, dass man gelassener und großzügig an solche Probleme gehen sollte. DAS würde der EU gut zu Gesicht stehen und würde eine tatsächliche Partnerschaft ausmachen.
Wer bleibt schon gerne freiwillig in einer Gemeinschaft, die nur mit Druck und Erpressung seine Leute zusammenhalten kann....das hat nichts mit Einigkeit und Recht und Freiheit zu tun sondern zeigt vielmehr eine ziemlich hässliche Seite der EU...…
Ob man so GB wieder zurückgewinnen kann?
Wenn man sich aber dazu entscheidet den Club zu verlassen um Mitgliedsbeiträge nicht zahlen zu müssen, dann sollte man auch nicht erwarten in den Genuss der Vorteile des Clubs zu kommen?
Wahre Worte.
Etwas romantisch verträumt.
Hoffen wir es wird nicht weiter eskalieren. In GB.
Europa ist zwar mehr als nur Zuschauer. Aber so richtig beteiligt sind wir derzeit auch nicht.
Der entscheidende Fehler des Kommentars ist, dass er Personenfreizügigkeit für Briten fordert, die diese im Gegenzug eben nicht gewähren wollen. Das ist Realitätsverweigerung. Es ist auch nicht an der EU, sich "grosszügig" zu zeigen, denn das ist die EU in vielerlei Hinsicht schon gewesen. Ihre Kernwerte darf die EU nicht verraten, Aber genau darum scheint es vor allem Gegnern der EU zu gehen.
Die Forderung nach "Grosszügigkeit" ist leeres Gerede.