Fünfzehn Grad, von der Küste her fegt ein herber Wind, die Sonne lässt sich nur sporadisch blicken. Aber weil wir im Norden Englands sind, lässt sich davon niemand beeindrucken: Das Bier trinkt man draußen, gern auch im T-Shirt, schließlich ist ja Sommer. Eine Familie sitzt an einem Tisch an der Hafenmeile und führt gleich einen weiteren Charakterzug der Northerners vor: Die Leute sind gesellig und stets zu einem Schwatz aufgelegt. Auch über den bevorstehenden EU-Austritt.
Sofort öffnet sich der berüchtigte Brexit-Graben – und er zieht sich quer durch die hölzerne Tischplatte. "Wir wurden hereingelegt", sagt David Murphy, 52 Jahre alt. "Die rechte Boulevardpresse hat die EU-feindliche Stimmung geschürt, und jetzt bezahlen wir dafür." Der ältere Mann gegenüber von ihm, Ron Knowles, erhebt seinen Zeigefinger und sagt: "Wir haben Leave gewählt, darum müssen wir jetzt auch raus. Und zwar am 31. Oktober." Murphy rollt die Augen und meint lapidar: "Ja, mein Schwiegervater und ich sind da unterschiedlicher Meinung." Hin und her geht die Diskussion, längst bekannte Argumente werden dargelegt, mit längst bekannten Gegenargumenten wird gekontert. Knowles ist ein Anhänger von Boris Johnson, und als er die Vorzüge des Premierministers erwähnt – Härte, Kompromisslosigkeit – meint Murphy: "Er ist einfach nicht intelligent genug, um eine eigene Meinung zu haben." Er meint Schwiegervater Ron, nicht Boris.
Hull, das eigentlich Kingston-upon-Hull heißt, ist eine mittelgroße Stadt am Humber, einem langen Meeresarm an der Ostküste von England. Das Meer war schon immer ein Teil seiner Identität – im wörtlichen Sinn: Bis in die Dreißigerjahre war der alte Stadtkern fast vollständig umringt von den Docks; wo heute der Queen’s Garden mit seinen adretten Blumenbeeten liegt, ankerten im 19. Jahrhundert die Walfängerschiffe. Die Fischerei und das damit verbundene Gewerbe war bis in die Siebzigerjahre der wichtigste Wirtschaftszweig – und dann war es damit recht schnell zu Ende: Die Einschränkung der Fangrechte im Nordatlantik traf Hull besonders stark.
Dann, in den Achtzigerjahren, kam Margaret Thatcher mit ihren wirtschaftsliberalen Reformen. Hull haben sie wenig gebracht: Viele Jobs gingen verloren, die Stadt erlebte wie unzählige nordenglische Küstenorte einen Niedergang, wenn auch etwas langsamer als andernorts, denn die Pharmaindustrie und die Gesundheitsbranche brachten noch immer Geld und Arbeitsplätze in die Stadt. Dennoch belegte Hull im "Economic Prosperity Index" von 2009 den letzten Platz, in puncto Armut den zweitletzten. Der Index misst den Wohlstand anhand verschiedener ökonomische und sozialer Indikatoren.
Im Zuge der globalen Finanzkrise und der tiefen Rezession in Großbritannien folgte dann noch ein umfassendes Sparprogramm der britischen Regierung. Erneut waren es Orte wie Hull, die besonders hart getroffen wurden. Das Geld, das die Gemeindebehörde von der Regierung in London erhält und das einen Großteil des gesamten Budgets ausmacht, ist seit 2010 um 55 Prozent geschrumpft. Überall musste gespart werden, Gesundheitsdienst, Schulen und Universität haben Mitarbeiter entlassen, Jugendclubs sind geschlossen worden. Heute ist Hull die drittärmste Gemeinde in England, die Löhne liegen 20 Prozent unter dem Landesdurchschnitt und in manchen Stadtteilen lebt fast die Hälfte aller Kinder in Armut.
"All dies bildet den Hintergrund für das Ergebnis des Referendums", sagt Mike Lammiman. Der 55-Jährige arbeitet an der Universität Hull, er koordiniert klinische Studien in der kardiologischen Abteilung, und er ist im Lokalverband der Grünen Partei aktiv. Im Gegensatz zu ihm, einem ausgesprochenen Pro-Europäer, stimmten damals über 67 Prozent der Wählerinnen und Wähler von Hull für den Brexit. Es ist einer der EU-kritischsten Landstriche. "Die Leute versuchten, einen Sündenbock zu finden, der dafür verantwortlich ist, dass das durchschnittliche Einkommen in der Stadt viel niedriger ist als im Rest des Landes und die Häuser im Gegenzug so teuer sind", sagt Lammiman. Er hält diese Brexit-Anhänger keineswegs für dumm: "Man kann ihnen nicht vorwerfen, für Leave zu stimmen. Die Leute verstehen sehr gut, wenn etwas nicht stimmt." Nur hätten sie das falsche Ziel ausgewählt: "Sie machten nicht die Regierung dafür verantwortlich, dass sie den Nordosten vergessen hat, oder dass unsere Fischerei-Industrie kaputt ist." Dabei wäre das richtig gewesen.
Kommentare
"Er ist einfach nicht intelligent genug, um eine eigene Meinung zu haben."
Schön, dass man das über die Brexiter bzw. Followern von Populisten zitieren kann, so entgeht man einer Zensur ;)
Man könnte ja aber auch ohne Intelligenz und eigene Meinung einfach den Remainern folgen, es bleibt die Frage, warum diejenigen, die "nicht intelligent genug" sind, so gerne den Krawallmachern folgen.
Stichwort "einfache Antworten".
"Man könnte ja aber auch ohne Intelligenz und eigene Meinung einfach den Remainern "
Sie liegen richtig. Man kann auch rein zufällig das Richtige tun, ohne die Hintergründe genau zu kennen. Andersrum wird es schwieriger.
"Man könnte ja aber auch ohne Intelligenz und eigene Meinung einfach den Remainern folgen, es bleibt die Frage, warum diejenigen, die "nicht intelligent genug" sind, so gerne den Krawallmachern folgen."
Weil zu fehlender Intelligenz auch noch Dummhait dazukommt.
Warum suchen arme Menschen immer einen "Sündenbock". Weil es zu hart wäre, wenn die Schuld an der eigenen Misere bei einem selber läge.
Warum ist ein Feind von außen besser, als ein innerer Feind. Weil man sich besser darauf verständigen kann und es für den inneren Frieden besser ist, wenn jemand fremdes Schuld an der Misere hat. Hätte die eigene Regierung Schuld und gäbe es über diese Frage Streit, stünde ja schlimmstenfalls ein Bürgerkrieg ins Haus.
Es ist also logisch und in gewisser Weise staatstragend, wenn es einen Feind von außen gibt. Und im Falle der EU wollten die Benachteiligten glauben, dass die EU Schuld sein müsse, am Elend. Wie schlimm wäre es denn für dieses stolze Land, wenn es wirklich die Unfähigkeit der eigenen Politiker wäre, die das ganze Desaster ausgelöst hätten.
Das erklärt auch, warum die britische Regierung so zaghaft Wahlkampf für ein Remain gemacht haben. Es wäre ja das Eingeständnis des eigenen Versagens gewesen.
Es ist alles menschlich logisch. Dumm, aber menschlich logisch!
"Warum suchen arme Menschen immer einen "Sündenbock".
Könnte es sein, dass in diesem Satz ein Wort falsch ist?
Nur eines überflüssig: Arme.
“Weil es zu hart wäre, wenn die Schuld an der eigenen Misere bei einem selber läge.”
Bitte legen Sie dar, inwieweit diese “Armen” an ihrer “eigenen Misere” schuld sind. Danke.
"Dumm, aber menschlich logisch!"
Diese Ansicht ist menschlich verständlich.
Der Spiegel hat das mal sehr zutreffend formuliert:
"Wenn Leute freiwillig einen Klub verlassen, den die anderen Klubmitglieder als Himmel auf Erden preisen, lässt sich eine solche Kränkung am ehesten verkraften, indem man die Zurückweisung mit der Beschränktheit der Neinsager erklärt."
https://www.spiegel.de/polit…
The sad thing is most of the UK population couldn't tell you a MEP's name (a part from Guy Verhofstadt or Nigel Farage) and 90% of the population won't know the name of the Largest European Political Party! The UK wants it's parliment own parliment to be in control. The UK fears people like Nigel Farage, Marine Le Pen, Italys Five Star Movement and they don't want to be governed by these people. Nigel Farage parties (UKIP and Brexit Party) cant even win seats in the UK parliment but we are happy to send him to Europe to fight for control. We have an Island mentality.
(My German in bad - sincere apologies for typing in English)
"Der Spiegel hat das mal sehr zutreffend formuliert:"
Nicht "der Spiegel", sondern Herr Fleischhauer, der heute beim Focus arbeitet, wo er politisch sicher besser hinpasst.
"Warum ist ein Feind von außen besser, als ein innerer Feind. Weil man sich besser darauf verständigen kann und es für den inneren Frieden besser ist, wenn jemand fremdes Schuld an der Misere hat."
Der äußere Feind ist beliebt, weil der geneigte Zuhörer ihn nicht kennt und die Lügen über diesen Feind nichts entgegensetzen kann.
Man kann das aber auch auf eine innere Gruppe anwenden, die etwas isoliert lebt oder einfach nur etwas "anders" ist.
Wichtig ist die Trennung vom eigenen Ideal, um die volle Wirkung zu erzielen.
Wenn dann der "Feind" entmenschlicht ist, gibt es keine Zurückhaltung mehr und die Gräueltaten nehmen ihren Anfang.
In einer Demokratie hat man als Wahlberechtigter bis zu einem gewissen Grad eine Mitverantwortung für das Handeln der Regierung und damit auch an der eigenen Situation.
Thx. Good explanation.
Das ändert nichts daran, dass die Formulierung ins Schwarze trifft.
Über den Brexit ohne Informationen abzustimmen war nicht sehr gescheit. Und die Informationen waren übers Netz frei zugänglich.
"Nur eines überflüssig: Arme."
So einfach wollte ich es dann auch nicht machen, weil in einem vernünftigen deutschen Satz normalerweise nur Adjektive überflüssig sein können ...
I believe the Tories are the ones who are afraid of Farage et al, not the population. Too much propaganda in the media, over-simplification of the issues at hand, failed policies over decades - the EU is a handy scapegoat. Stubbornness will lead the UK towards a Trump-style society, the stuff of nightmares.
"Man kann auch rein zufällig das Richtige tun, ohne die Hintergründe genau zu kennen."
Immer und immer wieder das Gleiche: Was das Richtige ist, wird als bekannt vorausgesetzt. Da haben sich also Generationen von Argumentationstheoretikern abgestrampelt, und dann das. iMMER WIEDER.
"In einer Demokratie hat man als Wahlberechtigter bis zu einem gewissen Grad eine Mitverantwortung "
Das gilt nur für wirkliche Demokratie und nicht für die "Illusion einer Demokratie". Die westlichen Demokratien sind "Eliten-Demokratien" die auf ein inszeniertes Spektakel periodischer Wahlen reduziert wurden, und bei denen die Bevölkerung aus einem ihr vorgegebenen "Elitenspektrum" wählen kann. Sie hat keinerlei Einflussnahme auf die wichtigsten gesellschaftlichen Entscheidungen und der Mitgestaltung ihres Gemeinwesens.
Reduziert man eine demokratische Teilhabe im Wesentlichen auf Wahlen, so widerspricht dies echter demokratischer Partizipation. Die repräsentative Demokratie eignet sich besonders gut dazu, in breiten Bevölkerungsschichten die "Illusion von Demokratie" bzw. Machtteilhabe zu nähren, faktisch jedoch auszuschließen – allein das Spektrum dessen, was man bei "demokratischen" Wahlen NICHT wählen bzw. beeinflussen kann, führt jede Vorstellung und Forderung nach Eigenverantwortung ad absurdum.
So ist das mit den "passenden" Quellenangaben!
Sind Sie ein Populist? Auf kompliziertes Problem geben Sie eine einfache Antwort: die sind doch alle dumm. Gucken sie mal darein https://m.youtube.com/watch?…
Oder besser: https://m.youtube.com/watch?…
So ein Unfug! Sie haben in Deutschland alle Möglichkeiten, sich politisch einzubringen, nicht nur mit Ihren paar Kreuzchen zur Bürgermeister, Landtags- und Bundestagswahl. Was Sie beschreiben ist die Mindestteilnahme, die allen offen steht. Sie können sich jedoch jederzeit und vielfältig, direkt und indirekt in die Politik einbringen. Sie können sich im Gemeinderat, in politischen Verbänden, um Umweltschutz oder in Vereinen engagieren, können Parteien gründen, unterstützen und sich gegen diese wenden, können beinahe alle politische Meinungen vertreten, und diese allen offen kundtun. Lokalpolitiker treffen Sie oft auf Festen, und selbst Politiker auf Landes- oder gar Bundesebene sind zugänglich. Was genau fehlt Ihnen denn? Was müsste denn geschehen, dass Sie sich gerecht behandelt fühlen?
Die Opferrolle, die Sie einnehmen ("Illusion von Demokratie") wird natürlich nicht dazu beitragen, dass Sie sich positiv beteiligen, weil Sie ohnehin davon ausgehen, keinen Einfluss nehmen zu können. Viele Menschen in Ihrer Umgebung sind politisch aktiv, Sie müssen nur mal die Augen aufmachen.
Finde ich gut, dass Sie nur "Krawallmacher" schreiben und nicht polarisieren, denn Extremismus jeglicher Couleur ist m.E. abzulehnen.
"bleibt die Frage, warum diejenigen, die "nicht intelligent genug" sind, so gerne den Krawallmachern folgen."
Antwort ist doch klar: Wer keine Argumente hat brüllt lauter, als die, die welche haben. Das ist diese andrere Art von "Rechthaben" ;-)
Frans hat recht - leider.
Denn genau die Positionen, in denen Macht ausgeübt wird ist von einer vergleichsweise kleinen Gruppe besetzt. Bürgermeister, Stadtrat usw. sind in der Regel - zumindest in Städten - an Parteizugehörigkeiten gebunden. Beleg: Wieviele Bürgermeister sind parteilos ;-). Neue Parteien werden oft von den etablierten auf vielerlei erdenkliche Art bekämpft. Nicht selten mit unfairen Mitteln. Beispiel hierzu die Grünen in der Anfangszeit, ebenso die Piraten und auch die AfD.
Solche Dinge wie z.B. Fraktionszwang müssten in einer Demokratie unter Strafe(!) verboten sein. Sind Sie aber nicht. Dieser Fraktionszwang wird eingesetzt.
Demokratie heißt, dass alle Macht vom Volk ausgeht. Bei uns geht aber nicht alle Macht vom Volk aus. Lediglich alle vier Jahre hat "Das Volk" die "Macht" diejenigen zu wählen, von denen für vier Jahre "alle Macht" ausgeht. Die Parteien geben das sogar unumwunden zu, indem sie sagen, dass es ihr Ziel ist an die Macht zu gelangen. Und das ist auch nach meiner Auffassung keine echte Demokratie.
Was genau ist denn "echte" Demokratie?
Ist das so etwas wie "echte" Liebe, "echtes" Glück, "echte" Freundschaft...
Mit solchen Formulierungen kann jeder Punkten. Hauptsache etwas wird im arg idealisierten, nie erreichbarem Zustand beschrieben. Ja klar, wer kann da wiedersprechenund hätte es nicht gerne "echt".
Ich sage, jeder der etwas differenzierter auf das Leben schaut kann aus "echte" eher so etwas wie "meine" oder "wenn ich das mit meinen Maßstäben von xyz messe, dann.." formulieren. Dann wird es klarer was Sie meinen.
Es sei denn, Sie sind Parteigänger wie @frans, d.h. derjenigen die überall "Elite" am Werk sieht und sich im geheimen nun in die "echten Eliten" bringen möchte: die "das Volk", "die Heimat" "unser deutsches Vaterland" wieder herstellen möchten in den Grenzen von "früher"...
"Was genau ist denn "echte" Demokratie?"
Echte Demokratie wäre in meinen Augen wenn jeder Regierende jederzeit von den Bürgern per Stimmabgabe abgewählt und bei Schadenerzeugung vollumfänglich zur Rechenschaft gezogen werden könnte.
Den Rest den Sie geschrieben haben habe ich zugegebener maßen nicht gelesen. An der Länge Ihrer Ausführungen erkennt man meust Leute due einem Fragen stellen und sich berufen fühlen duese Fragen gleich "für einen" zu beantworten. Was much eher langweilt.
Ich denje jedoch Ihre Kernfrage beantwortet zu haben. Wenn noch nicht stellen Sie gern weitere Fragen, bitte aber nicht zu ausschweifend. So dass auch ich ;-) Sie verstehe...
Der Siegeszug des Kapitalismus macht auch vor Großbritannien nicht halt.
Großbritannien ist die Wiege des Kapitalismus. Und der Absturz nach dem Brexit wird hart und schmerzhaft sein.
Treffen wird es wie immer diejenigen, die schon heute arm dran sind.
Post-Brexit können die Menschen in UK dann hautnah und täglich aufs Neue erleben, wie sich ihre persönliche Situation entwickeln wird.
>>>"Sie machten nicht die Regierung dafür verantwortlich, dass sie den Nordosten vergessen hat, oder dass unsere Fischerei-Industrie kaputt ist." Dabei wäre das richtig gewesen.<<<
Dieses Zitat aus dem Artikel zeigt doch, dass auch als (oder vielleicht weil?) EU Mitglied nicht möglich war, den regionalen Niedergang zu stoppen. Vielleicht hätte eine Nichtmitgliedschaft, dementsprechend keine Quoten bzw. Markthemmnisse für bretonische Billigfischer dem konkreten Problem entgegengewirkt?
Anders gesagt: m.E. denkt der Zitierte zu kurz. Die Regierung musste sich an EU Vorgaben halten. Und als Nettoeinzahler Gelder nach Brüssel liefern, statt Randregionen zu fördern?
Building a legacy from the ground up ....
Yepp ... mit Slogans um sich schmeissen. Das können Sie gut ... die lieben Briten!