Es hätte nicht viel gefehlt, und die zwölfte China-Reise der Bundeskanzlerin wäre in einem Fiasko geendet. Noch am Dienstag voriger Woche kam aus Peking die Botschaft, man werde in der seit einem Vierteljahr andauernden Hongkong-Krise gegenüber den Demonstranten keinerlei Konzessionen machen; es gebe keinen Raum für Zagen und Zögern und Kompromisse. Am Mittwoch jedoch zog die unglückselige Hongkonger Regierungschefin das Auslieferungsgesetz zurück, das die millionenfachen Proteste ausgelöst hatte, da es die Überstellung von Tatverdächtigen an die kommunistische Justiz auf dem Festland ermöglicht hätte. Als die Bundeskanzlerin am Donnerstag in der chinesischen Hauptstadt landete, wurde dann eine Äußerung bekannt, die Staatspräsident Xi Jinping kurz zuvor in der Zentralen Parteihochschule getan hat: "Wo es um Prinzipien geht, werden wir keinen Zoll nachgeben, doch in der Taktik kann es Flexibilität geben."
Entwarnung also, fürs Erste jedenfalls. Die Hongkonger Unruhen sind damit noch nicht beendet und auch nicht die Möglichkeit, sie militärisch oder mit bewaffneten Polizeikräften aus der Volksrepublik niederzuschlagen, sollte die Protestbewegung anhalten. Das Eingreifen ist womöglich nur verschoben, nicht aufgehoben. Doch offensichtlich will das Regime die Jubelfeiern zum 70. Jahrestag der Ausrufung der Volksrepublik China nicht überschatten lassen von einer Intervention, die weit gewaltsamer ausfallen würde als die Niederknüppelung der Tiananmen-Proteste vor 20 Jahren.
In der gemeinsamen Pressekonferenz mit der Bundeskanzlerin versicherte Ministerpräsident Li Keqiang, die Führung in Peking beharre unerschütterlich auf dem Prinzip "ein Land, zwei Systeme" und "Hongkonger regieren die Hongkonger"; es unterstütze die Hongkonger Regierung in dem Bestreben, "Gewalt und Chaos im Rahmen der Gesetze zu beenden". Angela Merkel war die Erleichterung darüber anzumerken, dass eine Zuspitzung ausgeblieben war. Im Gespräch mit Li, berichtete sie, habe sie betont, dass es in Hongkong eine friedliche Lösung geben müsse. Die Rechte und Freiheiten der Bürger müssten gewahrt bleiben; das britisch-chinesische Abkommen von 1984, das 1997 nach 155 Jahren Kolonialherrschaft über die Rückgabe Hongkongs an China ausgehandelt wurde, gelte nach wie vor.
"Sie werden die Gans schon nicht schlachten, die ihnen die goldenen Eier legt"
Es war freilich immer schon die Frage, ob die Regierung in Peking ihr Versprechen halten werde und Hongkong seine freiheitliche, offene Lebensweise bewahren könne, seine unabhängige Justiz, auch die freie Presse und den unbehelligten Handel und Wandel, die Artikel 5 des Grundgesetzes der Sonderverwaltungszone Hongkong der Volksrepublik China verbürgt: "Das sozialistische System und dessen Politik werden in der Sonderverwaltungszone Hongkong nicht angewendet werden, und das bisherige kapitalistische System und seine Lebensweise sollen auf 50 Jahre hinaus unverändert bleiben."
Als ich im Jahr der Rückgabe Hongkongs an China 1997 in der Noch-Kronkolonie war, glaubten dort zwölf Prozent der Bürger, die Meinungsfreiheit werde unterdrückt und die bürgerlichen Rechte würden suspendiert werden; 31 Prozent dachten, China werde sich im Großen und Ganzen an das Grundgesetz halten; doch 57 Prozent erwarteten, die entscheidenden Positionen würden mit "Patrioten" besetzt werden, die den Willen der Regierung in Peking vollzögen. Aber der beruhigende Konsens lautete doch: "Sie werden die Gans schon nicht schlachten, die ihnen die goldenen Eier legt."
Es ist schwer, zu sagen, wie das heutige Meinungsbild aussieht. Die Pekinger Hardliner mögen versucht sein, die 50 Jahre unterschiedlicher Systeme abrupt zu verkürzen, doch wäre der Preis dafür sehr hoch. Die Pragmatiker würden sicher lieber die Möglichkeiten nutzen, die ihnen der Grundvertrag bietet. Die sind keineswegs gering. Artikel 14 gibt der Hongkonger Regierung die Möglichkeit, von der Zentralregierung den Einsatz der chinesischen Militärgarnison zu verlangen, um die öffentliche Ordnung zu bewahren. Artikel 18 geht noch weiter: Bei Aufruhr in der Sonderverwaltungszone, der die nationale Einheit bedroht und von der Hongkonger Regierung nicht unter Kontrolle gebracht wird, kann der Ständige Ausschuss des Nationalen Volkskongresses beschließen, dass ein Notstand in der Sonderverwaltungszone herrscht und dort die einschlägigen nationalen Gesetze angewendet werden. Die Hongkonger Protestbewegung muss sich daher sehr davor hüten, in Peking den Eindruck zu vermitteln, ihre Stadt versinke im Chaos.
Kommentare
Da hat der Herr Sommer schon sehr gut beschrieben, wie die Sache wirklich aussieht.
...nur das Tianamen 30 Jahre zurückliegt und nicht erst 20, wie es im Artikel heisst.
Es ging in der Auslieferungsvereinbarung ursprünglich auch nicht um Dissidenten, sondern um Vergewaltiger und Mörder vom Festland China, die sich nun weiterhin in Hongkong verstecken und untertauchen können, da sie dort vor Auslieferung sicher sind, sehr zum Leidwesen der Opfer.
+++...nur das Tianamen 30 Jahre zurückliegt und nicht erst 20, wie es im Artikel heisst.+++
War das nun Nichtwissen oder Schludrigkeit von Herrn Sommer?
"nglich auch nicht um Dissidenten, sondern um Vergewaltiger und Mörder vom Festland China, die sich nun weiterhin in Hongkong verstecken und untertauchen"
Ja genau...und sie glauben dass es bei kriminellen geblieben wäre? Da muss man aber schon mehr als naiv sein. Haha aber ich lebe ja auch in einem freien land ohne angst vor politischer verfolgung. Was weiss ich schon *daumen hoch*
Aber viel mehr als hinschauen ist auch nicht drin.
Da verkennt Herr Sommer aber die Macht der EU bzw. der Kunden.
Wenn die Chinesen Ihren Schrott hier nicht mehr verkaufen können, wird China einknicken und Honkong in Ruhe lassen!
Entweder werden zusätzliche Steuern wegen der Vertragsverletzungen in Honkong erhoben oder die Verbraucher tragen dazu bei, indem sie alternativen Produkten kaufen, die nicht in China produziert wurden.
So etwas gibt es tatsächlich.
Eigentlich schade, wenn gerade jetzt die Briten Europa verlassen. Es werden nämlich britische Verträge durch die Chinesen verletzt.
"Es ging in der Auslieferungsvereinbarung ursprünglich auch nicht um Dissidenten, sondern um Vergewaltiger und Mörder"
Man kennt ja autokratische Systeme. Da sind Sie als Oppositioneller ratzfatz ein Terrorist oder eben bei Bedarf auch mal ein Vergewaltiger und Mörder. Ich denke die Hongkong-Chinesen haben schon ein sehr gutes Gespür, was derartige Gesetze wirklich bedeuten.
@ChilliCheeseChihuahua : "Man kennt ja autokratische Systeme. Da sind Sie als Oppositioneller ratzfatz ein Terrorist oder eben bei Bedarf auch mal ein Vergewaltiger"
Ist es nicht auch genau das was Julian Assange vorgeworfen wird ? Ist also die UK, und damit die EU, und damit Deutschland, nicht auch ein autokratisches Regime ? Seriöse Frage, nicht Polemik.
"Ist es nicht auch genau das was Julian Assange vorgeworfen wird ?"
Ja
"Ist also die UK, und damit die EU, und damit Deutschland, nicht auch ein autokratisches Regime ? "
Nein
"Ist also die UK, und damit die EU, und damit Deutschland, nicht auch ein autokratisches Regime ? "
Das wäre ein Umkehrschluss und die sind selten richtig.
Die EU-Staaten sind Vasallen des US-Imperialismus, deswegen die inszenierten Verfahren gegen Assange. Nicht nur in lupenreinen Autokratien wird das Recht gebeugt, auch in den westlichen "Demokratien", wenn entsprechende Gründe vorliegen.
"Die EU-Staaten sind Vasallen des US-Imperialismus, deswegen die inszenierten Verfahren gegen Assange"
also nach dem Motto: "es ist nicht unsere Schuld, wir haben nur Befehle gefolgt". In Nürnberg war entschieden worden das man sich damit nicht von der Schuld entziehen kann.
Und die etwa sich in Hongkong
frei und unbehelligt bewegen dürfen?
Ja. Alles fing an, als ein Man aus Hongkong seine Freundin aus Taiwan ermordet hat. Auslieferungsgebiete ist eigentlich etwas ganz normales zwischen Länder. Ich bin selber für so ein Gesetz. Jeder Verbrecher sollte seine Strafe bekommen. Ich finde den Artikel von Hr. Sommer gut, weil er nicht an Chinabashing teilgenommen hat. Er hat wenigstens versucht, ein paar Punkte aus seiner Sicht sachlich zu schildern...Wenn Sie mal die anderen Artikel hier über Hongkong liest, wissen Sie bestimmt was ich meine.
"Ist es nicht auch genau das was Julian Assange vorgeworfen wird ? Ist also die UK, und damit die EU, und damit Deutschland, nicht auch ein autokratisches Regime ? Seriöse Frage, nicht Polemik." - Falscher Adressat, der Vorwurf wird von den USA erhoben. Trump führt sich tatsächlich erschreckend autokratisch auf, und die USA sind aktuell eine ziemlich dysfunktionale Demokratie, da der Senat als Blockade- oder Abnickwerkzeug eingesetzt wird, und der Kongress damit seiner Kontrollfunktion nicht nachkommt.
Danke, soviel zu den sehr guten Beschreibungen des Herrn Sommer ...
Entfernt. Bitte verzichten Sie auf Beleidigungen. Danke, die Redaktion/tg
Entfernt. Bitte verzichten Sie auf Unterstellungen. Danke, die Redaktion/kn
Korrektur: Assange wird Spionage und Beihilfe zum Hacking vorgeworfen, nicht Terrorismus. Aber mit rechtsstaatlichen Maßstäben hat das Vorgehen von Schweden, Großbritanniens und der USA in diesem Fall auch nichts zu tun.
Der Kommentar, auf den Sie Bezug nehmen, wurde bereits entfernt.
Genau so sieht's aus.
Bei denen liegt kein Verbrechen in Hongkong vor.
"Ja genau...und sie glauben dass es bei kriminellen geblieben wäre? Da muss man aber schon mehr als naiv sein. "
Lesen Sie einfach das Gesetz, es ist Online verfügbar. Da gibt es eine Menge Ausschlusskriterien u.a. politische Verfolgung und drohende Todesstrafe. Assange wäre in HK MIT diesem Gesetz sicherer gewesen als er es in London je war.
"Man kennt ja autokratische Systeme. Da sind Sie als Oppositioneller ratzfatz ein Terrorist oder eben bei Bedarf auch mal ein Vergewaltiger und Mörder"
Ja und bei uns Kinderschänder!
Gerhard Reinig
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...nur das Tianamen 30 Jahre zurückliegt und nicht erst 20, wie es im Artikel heisst.
Es ging in der Auslieferungsvereinbarung ursprünglich auch nicht um Dissidenten, sondern um Vergewaltiger und Mörder vom Festland China, die sich nun weiterhin in Hongkong verstecken und untertauchen können, da sie dort vor Auslieferung sicher sind, sehr zum Leidwesen der Opfer.
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Der Grund dieses Auslieferung Gesetzes war:
https://www.scmp.com/news/ho…
Dieser Mörder hat in TAIWAN eine Frau ermordet und ist nach Hong Kong geflüchtet .
Aber das wird von unseren Medien mit einer gähnenden Leere berichtet.
Dieser Mörder freut sich, den auch mit Taiwan gibt es kein Auslieferung Gesetz.
Und Taiwan ist noch nicht Festland China.
"Aber das wird von unseren Medien mit einer gähnenden Leere berichtet."
Weil es unseren Medien beim Thema China noch nie um wirklich ausgewogene Berichterstattung gegangen ist!
Man möge sich nur mal die Sachkenntnis mancher Foristen hier anschauen, die zum Hintergrund des ganzen Konfliktes längst mehr objektivierbare Fakten beigesteuert haben, als man in vielen Artikeln der Journalisten gelesen hat. China bashing gehört längst zum guten Ton, womit man sich billig und meist unwidersprochen als Guter profilieren darf.
Taiwan hat aber ganz schnell sehr empört seine Mitarbeit an dem Gesetz Bestritten.
Danke - und den einzigen Stern haben Sie von mir!
@ganzschlimm
DANN hätte ja HK ein Auslieferungsabkommen mit Taiwan schliessen können.
Belastbare Quellen?
Oder nur Unfug?
Nur Unfug, Tom.
Ich hatte das irgendwo gelesen, finde den Artikel jetzt natürlich nicht wieder, und bekanntermaßen lasse ich Zeitungsartikel ja eh nicht als belastbare Quelle gelten...
Bei Aufruhr in der Sonderverwaltungszone, der die nationale Einheit bedroht und von der Hongkonger Regierung nicht unter Kontrolle gebracht wird, kann der Ständige Ausschuss des Nationalen Volkskongresses beschließen, dass ein Notstand in der Sonderverwaltungszone herrscht und dort die einschlägigen nationalen Gesetze angewendet werden.
Durch dieses Gesetz handelt Peking rechtmäßig.
Ich habe eine Frage. Hat die VR schon etwas umgesetzt? Soweit ich weiß, ist bisher die Polizei aus Hongkong beteiligt.
Wenn ein Land nur groß und mächtig genug ist, kann es sich alle Sauereien erlauben. Und letztlich wird es ihm dann auch verziehen werden.
Daher sind auszuschaltende "Schurkenstaaten" auch stets nur mittelgroße, mittelmächtige Länder, die es wagten, sich den Oberbullys in den Weg zu stellen. Egal ob beabsichtigt oder nicht. Die haben den schwersten Stand in der "Weltordnung". Mit ihnen wird man dann auch später noch hart moralisch ins Gericht gehen.
Dann lieber Zwergstaat sein und darauf hoffen, nicht mal zufällig plötzlich im Fadenkreuz der Interessen der "Großen" zu landen.
Es geht nicht und nie um Größe , sondern es geht um das Futtern wie Bertold Brecht es sagte, den wer das Futter für die Massen besorgt , der bestimmt wie er das besorgt und er wird letztlich dafür auch die Macht bekommen das so umzusetzen.
Ideelle Werte sind nett , aber wenn die Menschen verhungern interessieren sie einfach nicht mehr.
Und deshalb haben sie immer und überall am Ende diejenigen gewonnen, die das Futtern garantieren.
Manchmal erscheinen hier noch fundierte Fachmeinungen.
Perfekt.