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Lord William Arthur Waldegrave ist Mitglied der britischen Konservativen Partei. Von 1990 bis 1997 hatte er mehrere Ministerposten unter Premierminister John Major inne. Derzeit sitzt er im britischen Oberhaus, dem House of Lords. Sein jüngstes Buch trägt den Titel "Three Circles into One: Brexit Britain: How Did We Get Here and What Happens Next?"
ZEIT ONLINE: Herr Waldegrave, Sie haben 2016 dafür gestimmt, dass das Vereinigte Königreich in der EU bleibt. Warum?
William Waldegrave: Bei der Volksabstimmung 1975 habe ich mich der Stimme
enthalten, weil ich die Kampagne damals nicht ehrlich fand. (Anmerkung der Redaktion: Am 5. Juni 1975 fand in Großbritannien ein
Referendum über die Mitgliedschaft in der Europäischen
Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) statt) Meiner Meinung nach
haben wir damals so getan, als ginge es nur darum, einer Wirtschaftsgemeinschaft
beizutreten. Die politische Dimension haben wir sträflich vernachlässigt.
2016 hatte ich zwei Gründe für meine Entscheidung. Zum einen ging es um meine Kinder: Sie waren eindeutig für den Verbleib in der EU. Ihr Selbstverständnis, gleichzeitig britisch und europäisch zu sein, hat sich genauso entwickelt, wie man es sich erhofft hatte. Also habe ich für remain gestimmt. Aber ich hatte auch einen taktischen Grund. Großbritannien hatte für sich eine extrem privilegierte Position in der EU ausgehandelt, man denke an die Ausnahmen vom Maastricht-Vertrag und vom Schengenabkommen. David Cameron hat auch erreicht, dass wir von der EU-Erklärung einer immer engeren Union ausgenommen wurden. Das war die formale Anerkennung dafür, dass wir an einer politischen Gemeinschaft nicht wirklich teilnehmen wollten. Wir haben bekommen, was wir wollten. Mir schien es daher ein äußerst unpassender Zeitpunkt, um auszutreten.
ZEIT ONLINE: Hätte die EU irgendetwas tun können, um die britischen Wähler davon zu
überzeugen, zu bleiben?
Waldegrave: Ich wüsste nicht, was Europa hätte tun können. Das Desaster war ja kein Fehler
der EU, es war ein Fehler von Tony Blair. Er nutzte 2004 nicht die Möglichkeit,
die unkontrollierte Einwanderung zunächst aufzuschieben. Das war ein riesiger Fehler.
Er hat gedacht, dass diese Leute später Labour wählen würden. Hinzu kam, dass
der Wirtschaftsboom, den es vor der Finanzkrise gab, vor allem im Süden des
Landes und in London zu spüren war – die Vorteile waren nicht im ganzen Land gleichermaßen
verteilt.
ZEIT ONLINE: Warum ist es für Großbritannien so schwer, ein europäisches Selbstverständnis zu entwickeln?
Waldegrave: Wir, die Proeuropäer in der Konservativen Partei und im
sozialdemokratischen Flügel der Labourpartei, haben nicht entschieden genug für
das europäische Ideal geworben – nämlich eine neue politische Gemeinschaft
aufzubauen, in der die Loyalität früher oder später zuerst den europäischen
Institutionen gilt und nationale Institutionen sekundär sind. Daran ist ja
nichts Unehrenhaftes, aber die Briten haben die politische Dimension der EU nie
akzeptiert. Wenn wir klar gesagt hätten – wie Helmut Kohl es getan hat –, dass
wir Großbritannien in einer größeren EU verankern wollen, dann hätten wir eine
gute Basis gehabt. Aber das haben wir nicht einmal versucht.
ZEIT ONLINE: Warum nicht?
Waldegrave: Das Besondere an Großbritannien ist ja, dass unsere Institutionen im 20.
Jahrhundert nicht versagt haben. Und weil wir uns nie wirklich zur EU bekannt
haben – wie es fast alle anderen Länder in Europa getan haben –, war es sehr
schwer, den nationalistischen Tönen etwas entgegenzusetzen.
ZEIT ONLINE: Liegt es daran, dass das Vereinigte Königreich den Krieg gewonnen hat?
Waldegrave: Der französische Diplomat Jean Monnet soll einmal gesagt haben:
Großbritanniens Unglück ist es, den Krieg gewonnen zu haben. Was er damit
meinte: Wir waren nicht imstande, unsere Vergangenheit hinter uns zu lassen.
Frankreich, Deutschland, die Niederlande, Belgien, Italien: Sie alle haben in gewisser
Weise ihre Niederlagen mutig hinter sich gelassen. Vielleicht ist es schwerer,
eine ehrenhafte Vergangenheit hinter sich zu lassen als eine unehrenhafte.
Kommentare
Das Projekt "Europäische Union" ist wesentlich anspruchsvoller, schwieriger und langwieriger als sich das damals die Väter der Europa-Idee vorstellen konnten. Das Beispiel Großbritannien macht sehr deutlich, wie verfahren und festgefahren die Situation in Wirklichkeit ist und dass das Können der Verantwortlichen leider nicht ausreicht.
Die Situation ist nur fuer UK festgefahren - die EU wird, bis auf wenige Aspekte, weiterleben wie vorher.
Und ja, die Schuld fuer UK's Misere liege bei seinen absolut inkompetenten Politikern.
Muss man, nur weil sich die Mehrheit der Menschen im vereinigten Königreichen für den Austritt aus dieser EU entschlossen hat, jetzt nach dem Motto,"ihr werdet schon sehen, was ihr davon habt, nur böses wünschen? Wir werden sehen, ob es der richtige Schritt war. Die Anhänger der Mitgliedschaft in dieser EU haben doch nur die Befürchtung, dass es den Menschen im Vereinigten Königreich nach dem Austritt besser gehen könnte und andere Völker vielleicht auch das Recht für sich in Anspruch nehmen wollen, frei zu entscheiden, ob sie in dieser EU bleiben wollen oder nicht.Wir sind doch erst gar nicht gefragt worden, ob wir Mitglied dieser EU sein wollen oder nicht. Wir sind doch erst gar nicht gefragt worden, ob wir auf unsere von uns lieb gewordene DM zugunsten dieses Euro verzichten wollen. Das wurde uns doch aufgezwungen, schon vergessen? Die meisten Völker dieser EU sind doch auch nicht gefragt worden, ob sie in dieser EU sein wollen oder nicht.Dafür bezahlen wir viel Geld, damit sie nicht abtrünnig werden.
Ich finde ja so ne gefühlten Beweisketten immer super, die lesen sich so einfach wie Groschenromane.
Wer hat uns das denn so "aufgezwungen"?
Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde Deutschland von Westmächten besetzt. Deutschland gab seine gesamte Souveränität auf und wurde zwischen Frankreich, den USA und Großbritannien aufgeteilt. Eine der Voraussetzungen für die Wiedervereinigung und die Wiederherstellung der Souveränität war, dass die deutsche Wiedervereinigung nur im Rahmen einer breiteren europäischen Integration erfolgen konnte, um die Macht zu begrenzen.......
nur ohne Groschen
„ Wer hat uns das denn so "aufgezwungen"?“
Euro, Schengen und die EU-Verträge standen niemals zur Wahl. Insofern wurden sie den Bürgern in D aufgezwungen, richtig. Auch noch mit großen Lügen (“genauso hart wie die D-Mark“) und ohne breite Diskussion.
Zur Wahl steht lediglich alle 4 Jahre ein Parlament, und damit nur die „Menü“-Variante, bei der völlig unterschiedliche Themenkomplexe in ein Gesamtpaket verschnürt werden und damit ein detailliertes Meinungsbild unmöglich gemacht wird.
"Eine der Voraussetzungen für die Wiedervereinigung und die Wiederherstellung der Souveränität war, dass die deutsche Wiedervereinigung nur im Rahmen einer breiteren europäischen Integration erfolgen konnte, um die Macht zu begrenzen......."
You get unification, we get the euro
https://voxeurop.eu/en/conte…
War ein guter "Tausch!
Irgendwie meine ich, dass 1949 die Bundesrepublik als souveränere Staat mit Verfassung und allem anderen konstituiert wurde (sogar die Wiederbewaffnung folgte in den 1950er Jahren). Jetzt lese ich, dass das gar nicht stimmt und Deutschland erst nach 1989 zu einem souveränen Staat wurde und in der EU sein muss, damit es nicht zu mächtig wird? Bin ich zu blöd oder ist Ihr Kommentar etwas schräg?
Neben dem EU-Parlament wählen wir auch unsere eigenen Vertreter (Parlamente und Regierungen), die dann die EU-Politik bestimmen. Wer beschäftigt sich denn mal tiefer mit dem, was die EU alles so für ihre Mitgliedsstaaten erledigt. Die Bürger/innen springen doch erst an; wenn irgendeine unbeliebte EU-Richtlinie wie eine Sau durchs Dorf getrieben wird und jammern dann über die vermeintliche undemokratische EU.
"..Jetzt lese ich, dass das gar nicht stimmt und Deutschland erst nach 1989 zu einem souveränen Staat wurde und in der EU sein muss, damit es nicht zu mächtig wird?..."
Ist aber so!
Zitat: "Es stimmt, dass Politiker während der Teilung Deutschlands zwar immer von einer vollen Souveränität sprachen, es aber nur eine politische Souveränität gab. Das bedeutete, dass die drei westlichen Alliierten, Großbritannien, Frankreich und die USA, zwar die oberste Gewalt über Westdeutschland hatten, aber auf die Ausübung ihrer Hoheitsrechte verzichteten."
Quelle: https://www.geschichtscheck.…
Siehe auch: https://de.wikipedia.org/wik…
Im weiteren gab es noch länger und gibt es trotzdem noch "Vereinbarungen", die die Souveränitätsrechte Deutschlands berühren. So gibt es nach wie vor militärische Beschränkungen für Ostdeutschland (aus dem NATO-Russland-Konflikt motiviert).
Aber auch der "geheimdienstliche Hebel der Allierten" wurde erst 2013 ausser Kraft gesetzt.
https://www.golem.de/news/g-…
Für Deutschland ist die EU ein Segen. Weil man nicht mehr "deutsch" ist, sondern "europäisch." Das hängt mit der NS Zeit zusammen. Deshalb finden Sie auch eine hohe Zustimmung für die EU innerhalb Deutschlands.
Die U.K. hat dieses Problem bzw. Stigma eben nicht. Deshalb finde ich es richtig auch die Entscheidung aus historischer Sicht zu betrachten. Wenn Deutschland aus der EU austreten würde – schlägt Deutschland als singulärer Staat in Bewusstsein aller Länder plötzlich wieder durch. Deutschland tut gut daran in der EU zu bleiben.
Deutschland ist ein sehr mächtiges Land, viel mächtiger als Großbritannien und Frankreich. Großbritannien hat eine Insel, auf der man sich etwas sicher fühlt.... aber Frankreich hat Angst vor Deutschland, Frankreich tut alles, um Deutschland zu entmannen, und nutzt dazu die EU-Integration. Frankreich hat auch eine unterstützende militärische Allianz mit Großbritannien, wo Großbritannien und Frankreich nun im Wesentlichen ein einziges Militär teilen. Deutschland ist nicht zu diesem Bündnis eingeladen.... https://de.wikipedia.org/wik…
Ich denke da liegen Sie falsch in Bezug auf "mächtig." Deutschland weis wer wo der Hammer hängt und wer den Hammer hat.
https://www.zeit.de/2013/34/…
Ich habe aber hier von Deutschland als Macht gesprochen sondern viel mehr über die Einwohner von Deutschland. Die Mehrheit ist für den Verbleib in der EU. Da muss man sich nicht mehr als "Deutscher/Deutsche" outen, sondern man ist "Europäer/in."
"Deutschland gab seine gesamte Souveränität auf und wurde zwischen Frankreich, den USA und Großbritannien aufgeteilt."
Fuer einen begrenzten Zeitrahmen, und zu Recht. Es hat bei seiner Reorganisation und Neuausrichtung nur geholfen, mal einen Schritt zurueck zu treten.
Souveraen war es uebrigens wieder mit dem Abzug der Besatzungsmaechte .....
:-) :-) :-)
Unsere Brenda ist nicht immer auf dem Damm. Vermutlich das Alter.
Alles dreht sich immer nur darum, was aus Großbritannien wird. Interessanter finde ich die Frage, was aus der EU und Deutschland nach dem Brexit wird.
Großbritannien ist/war ein finanzielles Schwergewicht in der EU. Neben Deutschland gibt es da keine vergleichbaren Größen. Zum einen findet kein Umdenken in Brüssel statt die Ausgaben zu verringern, zum anderen träumen einige Mitgliedsländer davon, neue Nettoempfänger aufzunehmen (Balkan).
Das die Briten die Reisleine gezogen haben, halte ich aus deren Sicht für richtig. Die EU sollte jetzt nicht so tun, als wäre nichts passiert und endlich Umdenken. Diese stümperhafte Flickschusterei von drittklassigen Politikern in Brüssel muss beendet werden.
Macht es richtig, oder lasst es.
Gut gestartet ab mangels Treibstoff abgestürzt.
Nicht DIE DA in Brüssel wollen die Erweiterung.
Es ist die Industri insbesondere die DEUTSCHE EXPORTABHÄNGIGE
die Neue Märkte und auch neue Produktionsstätten sucht.
Musste in der Vergangenheit einige Vergleichskalkulationen
Produktion Chemie DE/GB/RU machen.
Was eine länderübergreifende Produktion angeht haben sich die Briten sowas von ins Abseits gestellt.
Tochterfirmen in den Ländern sind immer eigene Gesellschaften.
So muss Ware auch immer von Tochter zu Tochter verkauft werden da es eine unterschiedliche Steuergesetzgebung gibt.
Da kommen auch gleich die Währungsrisikien ins Spiel.DollarEuro/brische Pfund
Rohstoffe Weltmarkt => in EU/Dollar
Halbprodukte DE => GB Euro/britische Pfund
und zurück
Fertigware GB/DE => britische Pfund/Euro
Da wurde z.B. die Frage entschieden wo das neue Europaweite Lager aufgebaut werden soll. Dem deutsche BR wurde gleich die Pistole auf die Brust gesetzt was er anbietet um das Lager in DE zu halten, weil ja die Lohnkosten in RU deutlich weniger waren (gleicht sich ja langsam aus).
„Wir werden den EU-Austritt durchziehen müssen. Denn sonst könnte ein gefährlicher Mythos von Verrat in Großbritannien entstehen. „
Einfach nur grotesk.
Verzeihlich ist es, einen Fehler zu begehen.
Unverzeihlich aber ist es, trotz besserem Wissen aus mangelnder Courage heraus, einen Irrtum nicht zu beheben.
Sie vergessen schlicht, dass eine Mehrheit der Briten, jenseits aller objektiven Folgen, den Austritt vollzogen sehen möchte. Sie brauchen nur das Ergebnis der Europawahl anzuschauen. Und Umfragen bestätigen es. Innerhalb der Brexiter haben gar die "No dealers" ein klares Übergewicht.
Ich habe viele Jahre in England gelebt, und vermag die Überzeugung Waldegraves nur voll zu teilen. Wenn Briten sich etwas in den Kopf gesetzt haben, dann ziehen sie es durch. "Right or wrong, my country!" https://tvtropes.org/pmwiki/…
Und die "Verräter-Theorie" spielt dabei sehr wohl eine ganz erhebliche Rolle!
Sie, Scipio, denken einfach typisch deutsch, und vergessen dabei, dass die Briten über einen ungleich größeren Patriotismus verfügen als die Deutschen. So ist eine deutliche Mehrheit dort davon überzeugt, dass die EU Britannien mehr braucht als umgekehrt.
https://yougov.de/news/2017/…
Eine Überzeugung, die (siehe gleiche Umfrage) in den Nichtmitgliedsländern Norwegen und Schweiz übrigens geteilt wird, (warum wohl?) und in allen EU-Ländern, außer in D, ist man zumindest der Ansicht, dass beide gleichermaßen auf einander angewiesen sind. Da scheinen mir viele Deutsche arg betriebsblind zu sein. Briten ticken anders!