Die Europäische Union steckt seit der Europawahl am vergangenen Sonntag in einem offenen Machtkampf. Das Europaparlament und die Regierungschefs streiten darüber, wer neuer Präsident der EU-Kommission werden soll. Die Führungen der großen Fraktionen pochen darauf, dass nur einer der beiden Spitzenkandidaten aus dem Wahlkampf den Posten erhalten dürfe. Einige Regierungschefs hegen dagegen allerdings Vorbehalte. Darunter auch: Angela Merkel. Die Kanzlerin gilt keinesfalls als glühende Juncker-Anhängerin, auch wenn sie sich zuletzt öffentlich anders geäußert hat.
Die Spitze des bisherigen Parlaments hat in dieser Woche dennoch den EVP-Bewerber Jean-Claude Juncker nominiert, obwohl ihr das eigentlich gar nicht zusteht. Dafür erhalten die Parlamentarier breitflächig Unterstützung, nicht nur von der Presse, sondern auch vom wichtigsten deutschen Philosophen und Soziologen Jürgen Habermas.
In einem Interview der FAZ warnt der prominente Europabefürworter vor einem Anschlag auf die europäische Demokratie. Nach seiner Ansicht würden die Regierungschefs das europäische Projekt "ins Herz treffen", sollten sie nicht einen der Spitzenkandidaten als Kommissionschef vorschlagen. Fortan, argumentiert Habermas, wäre keinem Bürger mehr die Beteiligung an einer Europawahl zuzumuten.
Ziemlich krass, diese Mahnung. Allerdings auch ziemlich daneben.
Denn Europas Demokratie hängt keineswegs daran, ob Juncker oder sein sozialdemokratischer Kontrahent Martin Schulz künftig die Brüsseler EU-Verwaltung leiten. Abgesehen davon, dass das den meisten Bürgern ziemlich gleichgültig sein dürfte, sofern die EU die aus ihrer Sicht richtige Politik macht, gibt es keinen demokratischen Automatismus, der zur Wahl einer der beiden Kandidaten zwingt. Auch wenn die Europaparlamentarier das gerne so darstellen.
Kein Plebiszit
Die Wähler haben nämlich keineswegs einen neuen Chef der EU-Kommission bestimmt: Sie haben Abgeordnete nationaler Parteien gewählt, die sich im Europaparlament erst noch zu Fraktionen zusammenfinden müssen, – und das auch nur mit geringer Beteiligung. Obwohl die europäischen Parteifamilien mit viel Verve für ihre erstmals präsentierten Spitzenkandidaten geworben haben, ist die Wahlbeteiligung nicht gestiegen, sondern in den meisten Mitgliedsländern weiter gesunken. Gestiegen ist sie nur dort, wo wie in Frankreich, Großbritannien, Griechenland und Deutschland EU-Gegner erfolgreich waren oder den Wahlkampf dominiert haben.
Ein Erfolg war das Experiment mit den Spitzenkandidaten folglich nicht. Und die beiden stärksten Fraktionen, die EVP und die Sozialisten, die den Posten des Kommissionspräsidenten für sich beanspruchen, haben jeweils nur etwas mehr als ein Viertel der abgegebenen Stimmen bekommen. Zusammen stellen sie gerade einmal 54 Prozent der Europaabgeordneten.
Die Regierungschefs sind nicht gebunden
Folglich stellt das Wahlergebnis alles andere als eine zwingende Rechtfertigung dafür dar, dass die Präsidentschaft nur Juncker oder Schulz zufallen muss. Hinzu kommt: Die EU ist kein (Super-)Staat und keine parlamentarische Demokratie nach nationalem Vorbild. Sie ist ein Staatenbund, in dem sich die nationalen Regierungen und Parlamente die Macht mit den EU-Institutionen teilen. Der EU-Vertrag sieht deshalb vor, dass das Europaparlament zwar den Kommissionschef wählt, er oder sie aber von den Regierungschefs im Europäischen Rat vorgeschlagen wird.
Die Regierungschefs sollen dabei das Ergebnis der Europawahl "berücksichtigen", aber sie sind daran weder rechtlich noch politisch gebunden, schon gar nicht personell. Die Regierungschefs müssen lediglich schauen, welcher Kandidat eine Chance hat, vom Parlament gewählt zu werden. Das kann einer der Spitzenkandidaten sein – oder ein anderer/eine andere.
Kommentare
Ob hinter einer Mehrheit im Parlament, die Mehrheit der ...
EU-Bürger steht ist gerade die Frage, wenn z.B. eine luxemburger Stimme
10-mal so viel gilt wie eine deutsche. Die Briten konnten Juncker zudem gar nicht wählen, da die Conservatives nicht Teil der EVP sind. Eine Wahl, bei der Briten von vornherein nichts zu melden haben? Auch nicht sehr demokratisch.
Ist das alles wieder schön einfach
Degressive Proportionalität ist in föderalen Staaten üblich, siehe die Schweizer Kammern oder das Wahlmann-System der USA. Bei letzterem kriegt die Partei mit den meisten Stimmen sogar alle Wahlmänner eines Staates. In Europa hieße das, daß wir Deutschen 96 CDU-Leute nach Brüssel bzw. Straßburg schicken und null von SPD, CSU, Linke, AfD etc. Sind die USA und die Schweiz nun "undemokratisch"? Oder lehnt man die EU nicht vielleicht sowieso ab und schaut, mit welchen Erwartungen man dies untermauern kann? (Übrigens: Der deutsche Bundesrat kennt auch nur mind. drei bis max. sechs Abgeordnete. Heißt die Lösung nun, daß alle Länder aus der Bundesrepublik austreten sollen und damit alle Probleme aus der Welt sind?)
Endlich mal ein Kommentar...
... der die Situation rational sieht. Das europäische Parlament hat (ebenso wie der Rat) keinen Anspruch seinen eigenen Kandidaten einfach durchzuboxen. Und das EU-Parlament ist auch nicht wirklich demokratischer als der Rat.
Glaubwürdigkeit?
Und was ist mit der Glaubwürdigkeit?
Wenn man mit Spitzenkandidaten in den Wahlkampf zieht und nachher irgendjemand ganz anderes zum Präsidenten macht, dürfte das den evtl. rudimentär noch vorhandenen Glauben an die Demokratie in Europa noch weiter beschädigen.
Wir hatten das vor Jahren hier in Essen. Da verweigerte eine Partei nach gewonnener OB-Wahl ihrem Kandidaten anschließend die Gefolgschaft. Da fühlt man sich als Wähler ziemlich verar***t.
Vielen Dank für die richtige Frage!
Wobei es mit der Glaubwürdigkeit spätestens nach diesem Wahlk(r)ampf eh vorbei ist. Die CDU, auf ihren Wahlplakaten nichts vom "Spitzenkandidaten" Juncker erwähnend, hatte zumindest bei uns stadtweit fleißig die Kanzlerraute Merkels plakatiert. Und ich weiß von mindestens fünf, eher politisch rudimentär Gebildeten die Reaktion: "Merkel, find ich super. Gehe ich Sonntag wählen!"
Die Wahlbeteiligung ist nicht trotz oder wegen Spitzenkandidaten weiter rückläufig, sondern weil es die Politiker nicht schaffen, Europa zu den Menschen zu bringen. Auf die Frage, was mir Europa gebracht hat, fällt mir oft nur der Euro als Währung ein, bei der ich französische Franc nicht mehr in holländische Gulden umrechnen muss, toll. Aber ansonsten in meiner täglichen Erfahrung hauptsächtlich Gängelei, Bevormundung, Gleichmacherei und Zwangsbeglückung. Stichwort Glühbirne, Stichwort als Nichtraucherschutz (Arbeitsschutz) getarnte Rauchverbote, Blumentöpfe sind Verpackung und müssen entsorgt werden, wenn sie dem Transport der Pflanzen dienen, bleibt die Pflanze auch beim Konsumenten im Topf ist es keine Verpackung (dito Kleiderbügel), spiralförmige Ausbreitung der Tomatensauce auf einer Pizza Napoletana ((EU) 97/2010), usw.
Eine Einigung auf einen anderen als einen Spitzenkandidaten mag zwar rechtens sein - die Glaubwürdigkeit stirbt damit aber nur ein Stückchen mehr.
just 2cent
Merkel oder Steinbrück müssen es nicht sein
denn der Bundeskanzler wird vom Bundespräsidenten vorgeschlagen und vom Bundestag gewählt.
Haha
Schwachsinniger Vergleich
Ich zitiere der Einfachheit halber einfach mal Wikipedia:
"Sollte der vom Bundespräsidenten vorgeschlagene Kandidat nicht gewählt werden, so beginnt eine zweiwöchige Frist, in der der Bundestag unabhängig vom Vorschlag einen Bundeskanzler wählen kann. In jedem Fall muss der Bundespräsident einen mit absoluter Mehrheit gewählten Kandidaten ernennen."
http://de.wikipedia.org/w...