Stefan Pötschke zieht seinen Kaufmannskittel an und fährt los. Im Heck seines Lieferwagens transportiert er Einmachgummis, Geleebananen, Sauerfleisch, und im Kopf eine kleine Chronik der Menschen rund um Schwerin. Seit der Wende schaukelt der Kaufmann mit seinem fahrenden Supermarkt über die Dörfer der Gegend. Dabei ist Reden mindestens so wichtig wie Rechnen.
Der erste Kunde des Tages sitzt mit Gehstock und Stoffbeutel in der Hand vor seinem Haus und wartet schon auf Pötschke, der aussteigt und ihn begrüßt. "Guten Morgen, Herr Werselin*, wie geht es Ihnen?" Werselin nimmt das Gleiche wie immer: ein paar Lebensmittel, zwei Flaschen Schnaps und ein Weltkrieg-Heftchen voller Heldengeschichten über die Wehrmacht. Als Pötschke uns Journalisten vorstellt, regt Werselin sich auf: "Mit dem Stock sollte man Journalisten vom Hof treiben." Und: "Diesen Grünen-Politikern sollte man den Kopf rasieren und sie erschießen."
Pötschke hält freundlich dagegen, beruhigt den alten Mann. Später, zurück am Wagen, sagt er: "Im Zweiten Weltkrieg hat Werselin gegen jugoslawische Partisanen gekämpft, er hat echt was mitgemacht. Und seit seine Frau vor zehn Jahren gestorben ist, hat er außer seinem Sohn nur noch mich." Pötschke weiß das, weil er gerne eine Weile bei seinen Kunden bleibt und mit ihnen spricht. "Das hier wird immer mehr auch ein sozialer Dienst", sagt er. An Werselins Geburtstag stellte er ihm eine Flasche Likör vor die Tür.
Schaut man auf die Kennzahlen von Mecklenburg-Vorpommern, sieht man ein Land, das offenbar verödet. Wer hier wohnt, kann sich ein Viertel weniger leisten als zum Beispiel die Bayern. Die Arbeitslosigkeit liegt ein Drittel höher als im Bundesdurchschnitt. Nach der Wende lebten zwei Millionen Menschen zwischen Schwerin und polnischer Grenze, heute sind es nur noch 1,6 Millionen.
Wir fahren deshalb zwei Tage mit fliegenden Händlern im Westen und Osten von Mecklenburg-Vorpommern übers Land, um hinter diese Zahlen zu schauen. Um herauszufinden, wie es sich lebt in Gegenden, die immer leerer werden. Und ob es wirklich so schlimm ist.
"Nach der Wende ist hier alles kaputtgegangen", sagt Pötschke und öffnet in seinem Lieferwagen die silberne Thermoabdeckung des Kühlregals für die nächste Kundin. "In den ersten fünf Jahren brach die gesamte Nahversorgung zusammen." In der DDR hatte Pötschke als Chemieingenieur gearbeitet und als Bürgermeister einer kleinen Gemeinde, wollte nach der Wende aber raus aus der Politik. Als die ersten Einkaufsläden schlossen, kaufte er den Wagen.
"Wenn ich damals Urlaub gemacht habe", sagt er, "herrschte Hunger auf den Dörfern." Die Kundin, die gerade Obst in ihren Einkaufskorb legt, lebte schon damals in der Straße. "Hier war noch nicht mal asphaltiert, und wenn er nicht kam, haben wir ihn schon sehr vermisst." Immer mehr Menschen baten Pötschke, auch bei ihnen vorbeizuschauen. Und obwohl noch weitere Wagen über die Dörfer tourten, arbeitete er bis zu hundert Stunden die Woche. Doch irgendwann gingen die Stunden zurück.
Kommentare
Mecklenburg Vorpommern ist inzwischen Nettozahler ? Habe ich was verpasst oder heisst wirtschaftlich erfolgreich inzwischen nicht so armselig wie Berlin, Hamburg oder Bremen?
Armselig wie Hamburg? Checken Sie mal Ihre Vorurteile. Die Pfeffersäcke müssen noch etliche Jahre rote Zahlen machen, bis sie raus haben, was sie über die Jahrzehnte reingebuttert.
Der Herr Pötschke ist ein Vorbild. Fleißig, genügsam, beständig. Mit solchen Menschen kann man Staat machen.
"Der Herr Pötschke ist ein Vorbild. Fleißig, genügsam, beständig. Mit solchen Menschen kann man Staat machen."
Nein!
Solche Menschen braucht es (viel), damit einige wenige den dicken Reibach machen können!
Einen "Staat machen" könnte man mit Solidarität, wenn ALLE so viel beitragen wie sie können...
>>Mit dem Stock sollte man Journalisten vom Hof treiben." Und: "Diesen Grünen-Politikern sollte man den Kopf rasieren und sie erschießen."<< Zitatende
So spricht er also, der typische AfD-Wähler in MV. Mit solchen Leuten kann es nur eine rosige Zukunft in einer funktionierenden Demokratie geben. Glückwunsch an MV und die AfD, die solche Anhänger hat. Sie ist halt die Partei des gebildeten Mittelstandes. Das merkt man sofort.
Nja. Allerdings ist das noch viel größere Problem, dass solche Menschen dann meinen, dass die AfD (oder in dem Fall wohl eher die NPD) es wieder richten werden. Damit alles wieder so wird, wie früher.
Das MP (und Brandenburg und Sachsen Anhalt) einfach das komplette Mittelstandsnetz fehlt, welches "das Land" in den anderne Bundesländern am Leben erhält, verstehen sie nicht.
Aber, es entwickelt sich ja langsam wieder zurück. Allerdings werden, bis es zu einem spürbaren Effekt kommt, die meisten kleinen Dörfer schlicht ausgestorben sein.
Die Ostdeutschen kämpfen sich zurück während mit dem Finanzausgleich NRW, Bremen und Co. finanziert werden die nie mit Diktatur und Kommunismus klar kommen mussten sondern einfach nur grottenschlecht wirtschaften auf Kosten anderer.
Man sollte die ganzen Westdeutschen Empfängerländer vom Finanzausgleich abschneiden und diesen ausschliesslich in Ostdeutschland verwenden, Westdeutschland soll sich selber helfen, denn selber in den Abgrund gewirtschaftet haben sie sich auch.
Zurückkämpfen, soso.
Bei den Ausgleichszahlungen aus dem Länderfinanzausgleich ist Neufünfland durch die Bank Nehmer, Mecklenburg-Vorpommern, Thüringen und Sachsen-Anhalt mit steigender Tendenz über die letzten 5 Jahre, Brandenburg nimmt tendenziell weniger (ich vermute hier wirkt der Speckgürteleffekt), ebenso wie Sachsen, das aber immer noch sehr hohe Summen kassiert.
Einfach mal bei Wikipedia "Länderfinanzausgleich" eingeben.