Die SPD-Spitze hat sich an diesem verregneten Sonntag erfolgreich ihrem Trauma gestellt und das wohl größte Regierungsprojekt hinterfragt, das sie selbst geschaffen hat. Hartz IV – die Sozialreform des früheren SPD-Kanzlers Gerhard Schröder, die je nach Lesart die Bundesrepublik zum Reformmotor Europas gemacht oder Tausende Menschen in Rekordzeit entwürdigt und entmündigt hat.
Das 17-seitige Papier zum Thema "Arbeit – Solidarität – Menschlichkeit", das die Parteiführung im Berliner Willy-Brandt-Haus beschloss, verkündet nicht die Revolution. Es ruft weder ein bedingungsloses Grundeinkommen für alle aus noch eine Grundsicherung von 1.000 Euro monatlich, wie sie die Linkspartei fordert. Die Regelsätze des neuen Bürgergelds, wie Parteichefin Andrea Nahles die staatliche Hilfe für Langzeitarbeitslose ab sofort nennt, sollen mit 424 Euro pro Monat gleich niedrig bleiben.
Und doch ist dieser Beschluss eine Zäsur für die Partei, weil er die Lossagung von "dem Hartz-IV-System" ist, die Abkehr von einem Negativsound. Gesine Schwan, ehemalige Kandidatin für das Bundespräsidentinnenamt und Vorsitzende der Grundwertekommission der SPD, hat diesen Ton in einem taz-Interview zusammengefasst als "Idee, dass Menschen faule Säcke sind, die man unter Druck setzen muss". Die SPD-Politiker Manuela Schwesig und Kevin Kühnert haben zudem dieser Tage daran erinnert, dass das Wort "hartzen" die deutsche Sprache geprägt hat – und zwar als Synonym für "faulenzen".
Damit soll nun
Schluss sein. Die SPD will Arbeitslosen künftig mit einem positiven
Menschenbild begegnen: Jobsuchende sollen
sich nicht mehr als Bittstellerinnen oder Bittsteller beim Jobcenter fühlen, betont Parteichefin
Nahles. Der Sozialstaat soll bei der Arbeitssuche als verständnisvoller Partner zur Seite stehen, er "muss den Einzelnen und sein Schicksal respektieren",
so heißt es in dem Papier. Konkret bedeutet das: In den ersten beiden Jahren des Grundsicherungsbezugs soll keiner mehr aus seiner Wohnung ausziehen müssen, nur weil dem
Jobcenter die Miete zu teuer erscheint. Die Lebensleistung jedes Einzelnen soll besser gewürdigt werden: Wer viele Jahrzehnte gearbeitet hat, soll
auch länger das höhere Arbeitslosengeld I bekommen und nicht so schnell auf
Grundsicherungsniveau fallen. Und wer sich in Arbeitslosigkeit weiterbildet, soll ebenfalls
finanziell besonders unterstützt werden.
Ein Satz ist der SPD-Spitze besonders wichtig: Jeder und jede habe auch in Zeiten der Automatisierung und Digitalisierung ein "Recht auf Arbeit" – und nicht nur auf finanzielle Grundversorgung, also aufs Sofa verdammt zu sein, während die Maschinen die Arbeit machen. Zu lange, sagen Genossen, habe die SPD sich auf die wenigen konzentriert, die wirklich faul seien und nicht arbeiten wollten, und darüber diejenigen vergessen, die alles dafür geben würden, wieder einen Job und auch die damit verbundene soziale Anerkennung zu haben.
Eine Entschuldigung gibt es nicht
Noch einen Schritt weiter gehen und sich für Hartz IV entschuldigen, das will die Parteiführung allerdings nicht. Grundsätzlich sei die Reform "richtig gewesen", sagt die Parteichefin am Sonntagnachmittag bei ihrer Pressekonferenz. Die SPD-Führung habe sie jetzt nur einer "differenzierten Bewertung" unterzogen.
Wirklich brechen will Nahles nicht mit
Altkanzler Schröder, auch wenn der es sich nicht nehmen lässt, öffentlich immer
wieder über ihre vermeintlich fehlenden Führungsqualitäten zu lästern. Auch
andere in der Parteiführung sind gnädig: Jede Zeit habe ihre Antworten, Schröder
habe 2003 sicherlich "aus bestem Wissen gehandelt", so formuliert es die SPD-Linke Gesine Schwan.
Und tatsächlich ist es mit einem absoluten Urteil auch nicht so einfach: Fünf Millionen Arbeitslose gab es in Deutschland zum Zeitpunkt von Schröders Reformen, heute sind es 2,3 Millionen, so wenige wie seit der Wiedervereinigung nicht mehr. Dem Land geht es wirtschaftlich gut, die Löhne steigen, aber es gibt eben auch viele Niedriglöhner, denen Altersarmut droht. Die SPD hat in ihrer neoliberalen Phase und durch Hartz IV zweifellos an Vertrauen verloren, doch als Schröder 2005 – zwei Jahre nach der Hartz-IV-Enttäuschung – Neuwahlen ausrief, holte er noch 34 Prozent der Stimmen. Und das, obwohl Hunderttausende bei Montagsdemonstrationen gegen seine Politik auf die Straße gegangen waren. Heute ist es eine gute Woche für die SPD, wenn sie, wie vor wenigen Tagen, die 16-Prozent-Marke erreicht.
Daher ist an diesem Sonntag mal Zeit für gute Laune: "Sie sehen hier eine gut
gelaunte, positiv gestimmte Parteivorsitzende stehen", sagt Nahles. Arbeit ist das Leib-und-Magen-Thema der ehemaligen Arbeitsministerin, sie ist sichtlich zufrieden mit
dem Konzept. Einstimmig hat es der Parteivorstand verabschiedet, vom Oberrealo
Olaf Scholz bis hin zum Juso-Vorsitzenden Kevin Kühnert sind alle einverstanden. Selbst
Ex-Parteichef Sigmar Gabriel, der sich zuletzt öfter mal gern mit Kritik am Kurs seiner Partei meldet, hält sich zurück.
Kommentare
Man merkt , dass dieses Jahr Wahlen sind... liebe SPD, nichts als heisse Luft und Pseudovorschläge, das funktioniert wohl nicht mehr. "Neuer Sound".
Too little, too late.
Vor allem ist es kein neuer Sound. Die SPD nörgelt seit Jahren rum "Hartz IV, Hartz IV". Das eigentliche Traume der SPD ist die Linke, welche Ihnen entscheidene Wählerstimmen abgenommen hat. Und seit dem bemüht sich die SPD Ihnen Wähler abzunehmen in dem sie bei jeder Wahl wieder deutlich nach Links rückt, anstatt offensiv der CDU das Zentrum streitbar zu machen.
Wir schreiben das Jahr 2019....
vor 10 Jahren wäre die SPD mit einer glaubhaften Abkehr zu retten gewesen
Jetzt ohne Perspektive auf politische Mehrheiten aussichtslos...
Es bleibt zu hoffen.
Glaubwürdigkeit
Markenkern
Integeres Personal....Rudolf Dreßler war wohl der Letzte
Alles verloren , wie Tränen im Regen
weil man 15 Jahre am Narrativ der bitteren Medizin (Hartz 4) für den kranken Mann Europas festgehalten hat ...das jetzt der politische Gegner gegen die SPD einsetzen wird
Das Problem dieser SPD-Führung ist, dass sie unbedingt weitermachen will, obwohl sie großen Mist gebaut hat.
Millionen ehemaligen StammwählerInnen geht es jetzt nämlich schlechter als vor 20 Jahren, obwohl unser Land immer reicher geworden ist.
Diese Truppe müsste also geschlossen zurücktreten, um den angeblichen Kurswechsel der Partei glaubhaft vermitteln zu können.
Genau das ist aber so ungefähr das Einzige, wozu diese skrupellosen KarrieristInnen nicht bereit sind.
Sie wollen unbedingt weitermachen und um das zu erreichen, sind sie sogar dazu bereit, sozialdemokratische Politik zu machen.
Donnerwetter, was für eine Ansage.
Etwas schade, dass nur die SPD dafür so einen Zunder kriegt.
Denn die coolen neuen alten GRÜNEN haben bei dieser sozialpolitischen Sauerei genauso mitgemacht.
Wie auch alle anderen Parteien, bis auf DIE LINKE.
„Diese Truppe müsste also geschlossen zurücktreten, um den angeblichen Kurswechsel der Partei glaubhaft vermitteln zu können.“
Wohin soll der Kurs denn gehen? Für die SPD bleiben wenig Möglichkeiten. Die Totengräber der SPD heißen Oskar Lafontaine und Angela Merkel. Das linke Feld wird von der LINKEN besetzt, während Frau Merkel die Union so weit nach links geführt hat, dass für die SPD wenig Platz für ein eigenständiges Profil bleibt. Die SPD kann eigentlich nur darauf hoffen, dass die Union durch das Auftauchen der AfD gezwungen wird, weiter nach rechts zu rücken. Wenn das nicht passiert, sehe ich für diese Partei keine Zukunft mehr.
H4 wird der SPD noch lange nachhängen.
Schon vor der Einführung wurde gewarnt, aber man wollte nicht hören.
Jetzt muss sich auch niemand von der SPD mehr wundern.
Ja, wir schreiben das Jahr 2019
und fangen gerade erst an, vom
Sozialstaatskonzept 2025 zu reden.
"Ja, wir schreiben das Jahr 2019
und fangen gerade erst an, vom
Sozialstaatskonzept 2025 zu reden."
2025, dem Jahr, in dem die Baby-Boomer anfangen in Rente zu gehen. Sie werden den Staatshaushalt anspannen wie einen Flitzebogen. Ab diesem Jahr wird es eher wieder zu einem sozialen Kahlschlag ohne gleichen kommen müssen, wenn dieses Land nicht den Weg Griechenlands gehen soll.
Aber bis dahin kann man ja nochmal das Füllhorn aufmachen, und in Hoffnung auf Wählerstimmen nicht dauerhaft finanzierbare Versprechungen machen.
Beim Thema Finanzierung redete Herr Heil heute morgen im Fernsehen nebulös von den Superreichen.
Die Superreichen sind die, die mindestens einen zweiten Wohnsitz und ein zweites Konto im Ausland haben, vielleicht sogar einen zweiten Pass.
Ich weiß, wer wirklich mit "superreich" gemeint ist, und das macht mir persönlich Sorgen.
“Etwas schade, dass nur die SPD dafür so einen Zunder kriegt.
Denn die coolen neuen alten GRÜNEN ...“
Treibende Kraft hinter der Neoliberalisierung und der Umverteilung von unten nach oben in D. waren und sind hauptsächlich die Unionsparteien.
Dachte ich auch: too little, too late.
Super, die CDU ist ja nun nach Annegret-Kramp Karrenbauer auch sozialdemokratisch. Da kann doch nichts mehr schief gehen. Wir wussten es immer.
Man kann es nur noch mit Sarkasmus ertragen.
Entfernt. Bitte verzichten Sie auf Beleidigungen. Danke, die Redaktion/mes
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