Wieder einmal hat Nord Stream 2 Schlagzeilen gemacht – die neue Pipeline, die parallel zu Nord Stream 1 entsteht und die russischen Erdgaslieferungen durch die Ostsee auf eine jährliche Transportkapazität von 110 Milliarden Kubikmetern verdoppeln wird. Die Ukrainer sind dagegen, auch die baltischen Republiken, Polen, Tschechien und die Slowakei. Sie fürchten um ihre Sicherheit. In Westeuropa ist viel Kritik laut geworden, und letzte Woche hat erst im letzten Augenblick ein Kompromiss zwischen Paris und Berlin einen Eklat verhindern können. Die Trump-Regierung droht den beteiligten Firmen mit Sanktionen und "strategischen Konsequenzen". Selbst in der Bundesrepublik, sogar in der EU-Fraktion gehen die Meinungen auseinander. Was sind die Fakten?
- Fakt Nr. 1: Von den 1.230 Kilometern der neuen Rohrleitung vom russischen Wyborg bis Lubmin bei Greifswald ist ein Drittel bereits verlegt. Ende dieses Jahres wird das Gas fließen, das vor allem in Richtung Niederlande weitergeleitet wird. Nord Stream 2 ist ein privatwirtschaftliches Projekt, die nötigen Genehmigungen liegen vor. Der Staat hat, wie auch die EU-Kommission, keinerlei rechtliche Handhabe, das Vorhaben zu verhindern oder die Inbetriebnahme zu verbieten. Selbst die Verabschiedung einer neuen EU-Gasrichtlinie, die vorschreibt, dass der Eigentümer der Pipeline nicht mit dem Gaslieferanten identisch sein darf, würde nicht automatisch das Aus für Nord Stream 2 bedeuten. Moskau bereitet sich auf eine Übertragung der Eigentümerrechte an Rosneft vor.
- Fakt Nr. 2: Gegen Deutschland richtet sich die meiste Kritik, doch Nord Stream ist kein rein deutsches Projekt. Von den Kosten – knapp zehn Milliarden Euro – übernimmt Gazprom eine Hälfte, die andere Hälfte investieren zu gleichen Teilen von je 920 Millionen Euro fünf westeuropäische Unternehmen: Wintershall und Uniper (beide Deutschland), OMV (Österreich), Royal Dutch Shell (Niederlande und Großbritannien) und Engie (Frankreich). Belgien, Griechenland und Zypern haben keine Einwände. Von einer totalen Isolierung kann keine Rede sein. Wir sollten sie auch nicht herbeireden oder herbeischreiben.
- Fakt Nr. 3: Es gibt keine einseitige Abhängigkeit von Russland. Dessen Abhängigkeit von Deviseneinnahmen ist größer als die europäische Abhängigkeit von russischem Erdgas. Deshalb ist es seit vielen Jahrzehnten ein zuverlässiger Lieferant. Selbst auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges war Verlass auf seine Liefertreue, weil es die Gas- und Öleinnahmen brauchte. Das ist heute nicht anders. Die Verkäufe an China kommen schwer in Gang und die Chinesen zahlen bloß in Yuan. Putin braucht uns weiterhin. Im Übrigen hat Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier völlig recht, wenn er sagt, für die Frage der Abhängigkeit sei es nicht entscheidend, durch welche Rohrleitung das russische Gas kommt, durch die Ukraine oder durch die Ostsee.
- Fakt Nr. 4: Die Ukraine stellt ein Problem dar. Über das Pipelinesystem kam bisher das meiste Gas zu uns. Dass es 2006 und 2009 zu Lieferstörungen kam, lag zu einem guten Teil auch an der ungeschickten und sturen Politik Kiews, das seinen Zahlungen nicht nachkam und selbst das Gas verbrauchte, das für Westeuropa bestimmt war. Schwierigkeiten ergaben sich auch immer wieder wegen der vernachlässigten Wartung und Modernisierung, aus Streit um die Transitkosten und aus dem Verschwinden der Durchleitungsgebühren in Milliardenhöhe auf den Konten korrupter ukrainischer Politiker und Oligarchen. Kiew befürchtet, zwei Milliarden Dollar an jährlichen Transiterlösen zu verlieren, wenn Nord Stream 2 in Betrieb geht. Die Bundesregierung bemüht sich in Verhandlungen darum, einen weiteren Gastransport durch die Ukraine sicherzustellen. Putin kennt den Standpunkt der Bundeskanzlerin, dass die Betriebsgenehmigung für Nord Stream 2 den Abschluss eines neuen Durchleitungsvertrages zwischen Moskau und Kiew voraussetzt, der den Ukrainern Transiteinnahmen erhält. Allerdings stocken die Gespräche wegen des ukrainischen Wahlkampfes. Eine Abwahl Poroschenkos könnte die fällige Übereinkunft erleichtern.
- Fakt Nr. 5: Die Europäische Union wird in Zukunft nicht weniger, sondern mehr Importgas brauchen als heute. Dies liegt an der rückläufigen Produktion in den Niederlanden und in Norwegen, auch England wird immer einfuhrabhängiger. Der erhöhte Bedarf gilt insbesondere für die Bundesrepublik. Der beschlossene Ausstieg aus Atomkraft (2022), Steinkohle (2018) und Braunkohle (2038) schafft Versorgungslücken, die nicht so rasch durch erneuerbare Energien ausgefüllt werden können. Zur Grundversorgung brauchen wir Gas – mehr Gas. Demnächst müssen in Europa jedes Jahr 120 bis 140 Milliarden Kubikmeter ersetzt werden. Das spricht für Nord Stream 2. Überdies auch für Flüssiggas, wenn es einmal preislich mithalten kann.
- Fakt Nr. 6: Die Bundesregierung braucht sich wahrhaftig Trumps Vorwurf nicht gefallen zu lassen, dass der Bezug russischen Erdgases sie zum "Gefangenen" Russlands mache oder dass Deutschland total von Russland "kontrolliert" werde. Weder Bonn noch Berlin hat wegen der Gaslieferungen je vor dem Kreml gekuscht. Das gilt gerade für Bundeskanzlerin Merkel, die vor acht Jahren zusammen mit dem damaligen russischen Präsidenten Dmitri Medwedew Nord Stream 1 einweihte. Sie hat gegenüber dem Kreml in der Krim-Krise Härte gezeigt, wobei sie weiterhin auf eine diplomatische Minsk-Lösung drängt. Sie stärkt Deutschlands Rolle in der Nato, sie hält die Sanktionsfront in Europa zusammen, sie verurteilt Moskaus Politik im Asowschen Meer. Eine Gefangene Putins? Ein lachhaftes Urteil.
- Fakt Nr. 7: Die Bundesregierung hat in letzter Zeit zu spüren bekommen, dass ihre ursprüngliche Etikettierung des Nord-Stream-Unternehmens als "rein wirtschaftliche Angelegenheit" zu schlicht war. Inzwischen räumt sie ein, dass es zudem eine politische Dimension hat. Umgekehrt darf – und sollte – sie den Kritikern auch vorhalten, dass deren politische Kritik in beträchtlichem Ausmaß eine rein wirtschaftliche Angelegenheit ist. Das gilt vor allem für Donald Trump. Ihm geht es in erster Linie darum, Russland als Erdgaslieferanten vom Markt zu drängen und uns dafür das 20 Prozent teurere amerikanische Flüssiggas anzudrehen. Die angedrohten Sanktionen gegen die beteiligten Firmen, lassen wir uns da nichts vormachen, entspringen ebenfalls überwiegend geschäftlichen Interessen, nicht geostrategischen Notwendigkeiten. Ähnliches lässt sich für Polen sagen, das sich zur Gasdrehscheibe entwickeln will. Es baut – mit einem EU-Zuschuss von 320 Millionen Euro – eine Gasleitung nach Dänemark; zunächst für das bald versiegende norwegische Gas, dann für Flüssiggas aus den USA, das es dann weiterverkauft.
Mein Schluss aus diesen sieben Fakten ist eindeutig: Wir sollten uns von Unterstellungen, Verdrehungen und Trumpschen Verleumdungen nicht irremachen lassen, sondern ohne Gewissensbiss an Nord Stream festhalten. Den letzten Draht zu kappen, der uns noch mit Russland verbindet, entspräche nicht dem Interesse Deutschlands, dessen Nachbar Russland seit tausend Jahren ist und auch in den nächsten tausend Jahren bleiben wird.
Kommentare
Entfernt. Bitte formulieren Sie Kritik sachlich und differenziert. Danke, die Redaktion/dg
Wohltuender Faktencheck. Danke dafür Herr Sommer.
Ohne die Nordstreams wäre Mitteleuropa jetzt schon voll abhängig für Lieferungen von Trump, Katar, abhängig vom Wohlwollen der Ukraine usw. Ich sehe es auch wie Herr Sommer. Mit den Nordstreams hat Europa eine höhere Energiesicherheit und weniger Abhängigkeiten. Und irgendwie müssen wir auch mit einem Nachbarn Russland leben, ob wir wollen oder nicht.
Den Ausführungen kann ich voll und ganz zustimmen, vielen Dank für Ihren Einsatz, das wird Gegenwind geben.
Einen Punkt muss ich noch hinzufügen, Fakt Nr. 8:
In der Vergangenheit wahr Deutschland immer zu allen Lieferanten voll abhängig, weil es nie den Verlust (zum Beispiel wegen politischer Spannungen) eines großen Lieferanten ersetzen konnte. Mit den neuen Lieferoptionen in der Zukunft zum Beispiel aus dem Mittelmeerraum (Israel, Zypern etc.) oder aus Katar (South-Pars-Gasfeld) hat Deutschland so viele Möglichkeiten, das es nicht mehr im Balanceakt zwischen allen Stühlen tanzen muss. Das ist eine Versorgungsicherheit, die es vorher so nie gab. Das diese Freiheit anderen nicht gefällt, sollte nicht überraschen, deren Zorn aber sogar noch motivieren.
Hervorragender Artikel, der die Sache auf den Punkt bringt. Insbesondere die Heuchelei aus der Ukraine, wo es vor allem um die Einnahmen einer durch und durch korrupten Oligarchie geht, sind kaum zu ertragen. Auch die polnischen Argumente sind eher lächerlich. Aber auch die Einlassungen aus den USA, die vor Fakes nur so strotzen, sind eine Sache für sich. Das dumme Gerede über angebliche Abhängigkeiten von Russland entbehrt jeder Grundlage-wie erwähnt ist es am Ende völlig egal, durch welche Pipeline das Gas kommt-es kommt auf jeden Fall aus Russland. Einer der wichtigsten Aspekte ist jedoch, dass wirtschaftliche gegenseitige Verflechtungen eher gut für die Erhaltung des Friedens sind-aber solche Überlegungen sind einem Herrn Trump natürlich völlig fremd!
Insbesondere die Heuchelei aus der Ukraine ...
Exakt, aber auch das greift der Artikel bereits auf, Zitat: "eine Abwahl Poroschenkos könnte die fällige Übereinkunft erleichtern." Die Opposition führt im Moment deutlich, daher ist eine neue Übereinkunft sehr wahrscheinlich. Ohne den Poltergeist Poroschenko könnte ich mir sogar eine Befriedung der Region vorstellen.