ZEIT ONLINE hat alle Reden des deutschen Bundestags durchsuchbar gemacht. In ihnen zeigt sich, welche Themen die Debatten dominiert haben und wie stark sich die Sprache im Bundestag verändert hat.
Eine halbe Million Kinder sind nach Ansicht des SPD-Abgeordneten Hans Apel im Jahr 1970 "echten Gefährdungen" ausgesetzt – weil ihre Eltern als sogenannte Gastarbeiter und Gastarbeiterinnen ganztägig arbeiten und kaum Zeit hätten, sie zu betreuen. Könne man nicht, fragt Apel den FDP-Innenminister Hans-Dietrich Genscher, die Einreisebestimmungen verändern? Den Familien wäre geholfen, wenn man neben Mutter und Vater vielleicht auch noch eine Oma nach Deutschland kommen ließe, die sich um die Kinder kümmert, so die Überlegung der SPD.
Genscher lässt seinen Parlamentarischen Staatssekretär Wolfram Dorn antworten, der findet die Idee absurd. Er warnt vor der "Ansiedlung ausländischer Großfamilien und Sippenverbände", vor "Belastungen und Schwierigkeiten auf sozialem, wirtschaftlichem und ordnungsrechtlichem Gebiet" und befindet: "Eine solche Einwanderung wäre mit den Gegebenheiten der Bundesrepublik, die ihrer ganzen Struktur nach kein Einwanderungsland ist, unvereinbar."
Kein Einwanderungsland. An diesem Dogma halten Politiker aller Parteien lange fest. Wer in den Sechziger- und Siebzigerjahren im Bundestag den Begriff "Einwanderungsland" verwendet, meint damit entweder andere Staaten – oder erklärt eben, warum die Bundesrepublik auf keinen Fall eines sein könne.
Die begriffliche Abgrenzung geht einher mit einer Politik, die sich kaum um die Lebensbedingungen und Teilhabechancen der "ausländischen Arbeitskräfte", wie sie damals genannt wurden, kümmert. Anfang der Siebzigerjahre verschlechtert sich die wirtschaftliche Lage, die erste Ölkrise verursacht eine steigende Arbeitslosigkeit. Damit ändert sich auch die öffentliche Stimmung gegenüber den nun als Konkurrenz empfundenen Arbeitern und Arbeiterinnen aus dem Ausland.
Schnell ist die Bundespolitik bereit, die eben noch geförderte und gewünschte Einwanderung wieder zu begrenzen: 1973 beschließt der Bundestag den sogenannten Anwerbestopp. 1981 sagt der Bundeskanzler Helmut Schmidt: "Es war ein Fehler, so viele Ausländer ins Land zu holen."
In den Jahren nach der Wiedervereinigung wird der Wunsch nach Abgrenzung noch viel stärker: Immer häufiger wird im Bundestag über Abschiebung gesprochen, auch die Klage über eine sogenannte Überfremdung hat nun wieder Konjunktur.
Im Land schlägt die Feindseligkeit in dieser Zeit in Gewalt um – am heftigsten in Mölln, Solingen und Rostock-Lichtenhagen. 1992 einigen sich Union, SPD und FDP auf eine Verschärfung des Asylrechts, das Kommen und Bleiben wird erschwert.
Doch es gibt auch eine Gegenbewegung: Ab 1980 setzt bei einigen Abgeordneten die Erkenntnis ein, dass im Umgang mit den Menschen aus anderen Ländern Fehler gemacht wurden.
In den Neunzigerjahren thematisieren Politiker und Politikerinnen die wachsende Ausländerfeindlichkeit und den zunehmenden Rassismus. Sie fordern, Deutschland solle seine Rolle als Einwanderungsland endlich anerkennen, es solle nicht nur auf Abgrenzung und Repression setzen, sondern auch Teilhabe ermöglichen. Immer häufiger wird jetzt über Konzepte zur Integration diskutiert.
Doch die Union beharrt weiter auf dem Grundsatz, den sie schon 1983 im Koalitionsvertrag mit der FDP festgeschrieben hatte: "Deutschland ist kein Einwanderungsland." Auch nachdem die FDP in der ersten Hälfte der Neunzigerjahre ihre Position ändert und ein Einwanderungsgesetz fordert, mit dem der Zuzug von Fachkräften geregelt werden soll, hält die Union an ihrer Haltung fest – ungeachtet einer gesellschaftlichen Realität, in der Millionen Menschen familiäre Wurzeln außerhalb Deutschlands haben.
Erst der Zuzug Hunderttausender Kriegsflüchtlinge 2015 und 2016 führt auch bei einigen Politikern von CSU und CDU zum Umdenken. Im Sommer 2019 einigt sich die große Koalition auf ein sieben Gesetze umfassendes Migrationspaket. Als Teil des Kompromisses handelt die SPD ein Fachkräfteeinwanderungsgesetz aus. Das geht vielen zwar nicht weit genug. Doch es ist das erste Mal, dass ein Gesetz die längst bekannte Realität anerkennt.
Kommentare
Naja, für mehr oder weniger 100 Jahre war Deutschland auch kein Einwanderungsland. Noch sehr viel länger wenn man das HRR mitzählt.
Sowohl Bonner als auch Berliner Republik waren lange Zeit nicht auf permanente Migration eingestellt. Gesellschaften haben eben eine gewisse Trägheit, da kann es gerne Jahrzehnte dauern, bis Ansichten sich ändern.
'Naja, für mehr oder weniger 100 Jahre war Deutschland auch kein Einwanderungsland.'
Oh, oh, mal wieder nicht aufgepasst? Welches Deutschland meinen Sie?
Vor 1918, nach 1918, nach 1945, nach 1989?
Egal, Deutschland war immer Einwanderungsland, mal mehr Einwanderung, msl etwas weniger.
"In den Jahren nach der Wiedervereinigung wird der Wunsch nach Abgrenzung noch viel stärker: Immer häufiger wird im Bundestag über Abschiebung gesprochen, auch die Klage über eine sogenannte Überfremdung hat nun wieder Konjunktur."
Gesprochen hat man viel darüber, zur Ehrenrettung der damals Beteiligten muss man allerdings auch sagen, dass trotz der Debatten sich Deutschland letztendlich massiv geöffnet hat - und zwar schon deutlich vor 2015.
"Erst der Zuzug Hunderttausender Kriegsflüchtlinge 2015 und 2016 führt auch bei einigen Politikern von CSU und CDU zum Umdenken."
Wie gesagt, Deutschland hat sich schon vorher weit geöffnet. Jeder Vierte in Deutschland hat Migationshintergrund - das ist nicht über Nacht so gekommen, sondern das Ergebnis jahrzehntelanger Einwanderung.
"Jeder Vierte in Deutschland hat Migationshintergrund - das ist nicht über Nacht so gekommen"
Stimmt. Ich habe einen urdeutschen Namen, aber meine Urgroßeltern mütterlicherseits waren beide aus dem damaligen Polen, wanderten noch vor 1900 ins Ruhrgebiet ein und blieben. Den Namen deutschen sie ganz verschämt ein, weil sie wohl schon damals dafür angefeindet wurden.
Insofern gehöre ich auch zu den Deutschen mit Migrationshintergrund, wie gefühlt auch das halbe Ruhrgebiet seit dem 19. Jahrhundert.
Es ist das Ergebnis jahrhundertelanger Einwanderung.
Sie sollten mal eine von diesen DNA Analysen anfertigen lassen - dann werden Sie feststellen, dass Sie das Ergebnis jahrhundertelanger Einwanderung sind :-)
„Insofern gehöre ich auch zu den Deutschen mit Migrationshintergrund“
Für mich nicht.
Warum?
Für mich sind Sie deutsch.
Genauso wie Mesut, dessen Familie schon in dritter Generation in Deutschland lebt.
Ausnahmslos wird man bei jedem Deutschen, Migration in der Familie finden. Man muss nur lang genug nach hinten gehen.
Wir sind alle Nachfahren von Migranten. Selbst ein Bernd H. wird das in seiner Familie finden.
Warum auch nicht? Wir lieben in der Mitte Europas und haben (bis auf Brasilien und China) die meisten Nachbarn an unseren Grenzen. Da ist Migration völlig normal und richtig.
Letztendlich haben wir alle Migrationshintergrund - wir sind nämlich eigentlich alle Afrikaner.
Mir ging es eher darum zu zeigen, dass - schon nach der relativ engen - offiziellen Definition des Migrationshintergrundes dieser bei einem großen Teil der Bevölkerung vorliegt.
Die Diskussion Einwanderungsland ja/nein ist daher völlig sinnbefreit, weil D de facto ein Einwanderungsland IST!
Eigentlich sogar seit Jahrtausenden...aber soweit braucht man ja garnicht zurückgehen. Die offizielle Definition des Migrationshintergrundes ist relativ eng gesteckt, aber selbst die trifft schon auf jeden Vierten zu.
Ich denke das veranschaulicht ganz gut, dass sich die Gesellschaft nicht irgendwann mal vor 1000 Jahren geändert hat und dann auf einem Stand stehengeblieben ist, sondern sich innerhalb von einigen Jahrzehnten erheblich verändert hat. Die Gesellschaft ist immer im Fluss, und das ist auch gut so.
Die Frage ist doch, ob sich Mesut selbst als Deutscher sieht? Bzw., was er mit "deutsch sein" verbindet?
Wie viele Mesuts kennen Sie?
Ich kenne viele - die sehen doch deutlich als Deutsche mit Wurzel aus anderen Ländern.
Sie sollen und können auch stolz darauf sein.
Das ist sicherlich interessant. Und dann stellen wir uns allen dieselben Fragen und vergleichen die Ergebnisse.
Mesut wird sich soweit als Deutscher fühlen, wie die Gesellschaft es zulässt. Genauso, wie ich mich soweit als Deutscher fühle, wie es die Gesellschaft zulässt, wenn man einen afrikanischen Großvater hat. Meine Mutter wurde 1930 geboren, da war man mit einem afrikanischen Vater nicht sonderlich deutsch.
"das ist nicht über Nacht so gekommen, sondern das Ergebnis jahrzehntelanger Einwanderung."
Und? War das ein Erfolg?
Ok, was verstehen wir beide unter Deutsch sein. Mein Urahn war schon vor hundertsiebzig Jahren Bürgermeister in unserem Dorf. Meine Frau kommt aus Nigeria und spricht und schreibt besser deutsch als die meisten in unserem Dorf. Sie ist Vorsitzende des Kulturvereins. Und jetzt sagen Sie mir wo Ihr Problem ist.
Deutschland ist ein weltoffenes und fortschrittliches Land. Die Bürger schwärmen als Reisende seit den 50er Jahren regelmässig in die ganze Welt aus, die Wirtschaft exportiert ihre Produkte für die ganze Welt und eine europäische Binnenmigration sowie die Migration von Menschen auf durchschnittlichem bis hohen Bildungsniveau aus vielen Teilen der Welt verkraftet das Land ohne weiteres. Der deutschsprachige Kulturraum hat es seit Kriegsende geschafft, inzwischen die Region auf der Welt zu sein, mit den regelmäßig lebenswertesten Metropolen weltweit und zwischen Hamburg, Salzburg, Wien und Zürich zu leben ist ein Privileg. Die erwirtschafteten Ressourcen dort reichen aus, Millionen Menschen überall auf der Welt mit zu einem besseren Leben zu verhelfen, Produkte und Dienstleistungen zu erfinden, die das Leben aller Menschen verbessern können und ein der Humanität verpflichtetes Europa der Vaterländer täte sein Übriges. Was machen unsere Politiker derzeit daraus?
"Der deutschsprachige Kulturraum hat es seit Kriegsende geschafft, inzwischen die Region auf der Welt zu sein, mit den regelmäßig lebenswertesten Metropolen weltweit und zwischen Hamburg, Salzburg, Wien und Zürich zu leben ist ein Privileg."
Privileg wahrscheinlich schon, denn man ist vom Sozialsystem aufgefangen, aber lebenswerte Großstädte?
Hamburg oder überhaupt deutsche Städte gehören nicht mehr dazu laut aktueller Daten:
"Wien ist laut einer britischen Studie die lebenswerteste Stadt der Welt. In der am Mittwoch veröffentlichten, jährlich erscheinenden Rangliste der Economist Intelligence Unit (EIU) lag die österreichische Hauptstadt wie bereits im Jahr 2018 vor der australischen Stadt Melbourne, gefolgt von Sydney, Osaka und Calgary. Eine deutsche Stadt schaffte es nicht in die Top 10."
In: https://www.faz.net/aktuell/…
Wer meint, dass ein Einwanderungsland ein Land ist, in das Migranten beliebig einwandern, hat den Charakter eines Einwanderungslandes nicht verstanden. Dieses sucht sich seine Einwanderer nach strengen Kriterien aus gemäß dem Prinzip, dass die Einwanderer dem Aufnahmeland etwas bringen müssen, und nicht etwa umgekehrt. Ein Einwanderungsland verhält sich so, wie Deutschland sich nicht verhält.
Das ist definitorische Haarspalterei und ein perfektes Beispiel dafür, wie schwer sich die Deutschen mit dem Begriff Einwandungsland tun.
In Deutschland haben rd. 20 Mio. Menschen Migrationshintergrund, das entspricht mehr als der Bevölkerung der Österreich und Schweiz zusammen.
Wenn das kein Einwanderungsland sein soll, dann weiß ich auch nicht mehr...