Das Bemerkenswerteste an der Geschichte von Per Mertesacker stand nicht im Spiegel. Das Bemerkenswerteste waren die Reaktionen darauf.
Dabei hatte Mertesacker einiges zu erzählen. Was der Druck mit ihm macht. Von Durchfall und Brechreiz. Von dem guten, aber eigentlich verbotenen Gefühl, als Deutschland das WM-Halbfinale 2006 gegen Italien verloren hatte, weil er nur dachte: "Endlich ist es vorbei." Von der Tatsache, dass die Spieler untereinander zwar Späßchen machen, aber über den Druck, den sie verspüren, nie reden. Vom Funktionieren müssen und von Verletzungen, von denen er glaubt, einige waren auch psychisch bedingt.
Der Fußball-Weltmeister Per Mertesacker erzählte so ehrlich wie noch nie ein Profifußballer erzählte. Und was macht die Branche? Zuckt kühl mit der Schulter. "Nationalmannschaft spielt man ja freiwillig. Er hätte ja aufhören können, wenn der Druck so groß war", sagte Lothar Matthäus. Der frühere Leverkusen-Manager Reiner Calmund sagte: "Warum hat er dann nach der WM 2006 noch weitergespielt?" Auch Christoph Metzelder gab sich verwundert. Es gab auch andere Reaktionen, von Thomas Hitzlsperger oder Ivan Klasnic via Twitter, aber man kann davon ausgehen, dass weite Teile des Fußballbusiness eher so reagieren wie die TV-Experten Calmund und Matthäus: Er soll sich nicht so anstellen, das bisschen Druck, meine Güte!
Es ist genau diese in der Fußballbranche vorhandene Empathielosigkeit, die zeigt, wie wichtig Mertesackers Offenheit war. Spieler werden für Millionen und Abermillionen hin- und hergeschoben. Doch wie es dem Menschen dahinter geht, interessiert kaum jemanden.
Natürlich, Fußball ist Leistungssport. Leistungssport ist, das sagt schon der Name, womöglich die reinste Ausprägung unserer Leistungsgesellschaft. Leistungssport ist brutal. Wer lange schlecht spielt, muss irgendwann gehen, da hilft kein Betriebsrat. Dennoch täte es allen Beteiligten nicht weh, einmal die Frage zu stellen, wie mit den Akteuren umgegangen wird, die die Massen ja eigentlich nur unterhalten sollen. Es gibt wohl niemanden, der im Sport das Leistungsprinzip in Frage stellen wird, es ist seine Bedingung. Aber wenn Spieler, die dafür da sind, dass sich die Menschen gut fühlen, wenn Deutschland etwa Weltmeister wird, sich selbst dabei schlecht fühlen, läuft etwas verkehrt.
Vielleicht ist es naiv, aber wie wäre es mit einem menschlicheren, entspannteren Umgang? Maß und Mitte in der medialen Berichterstattung. Etwas mehr Bedacht bei den Vereinen, ihre Spieler nicht in immer mehr Wettbewerben zu verheizen, sowohl physisch als auch psychisch. Weniger Geld wäre auch mehr, es würde den Druck nehmen. Und Fans, die zwar fanatisch sind, aber nicht zum Fürchten. Schon fast ironisch, dass ausgerechnet an diesem Wochenende einige Anhänger des HSV vor dem Stadion für ihre Spieler Grabkreuze errichteten.
Mertesacker sagt klar, dass er nicht weinerlich klingen möchte, er ist sich seiner Privilegien bewusst. Aber auch Millionen auf dem Konto und ewiger Ruhm als Weltmeister schützen nicht vor Selbstzweifeln, Ängsten, Überforderungen. Und geht es nicht jedem manchmal so? Man sitzt im Büro, hat den Job, den man sich mit Können, Einsatz, aber eben auch ein wenig Glück erarbeitet hat. Ein Job, den andere aber vielleicht genauso gut ausfüllen können, vielleicht sogar noch besser. Weshalb man sich manchmal fragt, wann man denn nun entlarvt wird? Wann jemand kommt, einem auf die Schulter tippt und fragt: Was machen Sie eigentlich hier?
Man muss schon ein Überflieger sein oder mit einer beinahe krankhaften Portion Selbstbewusstsein ausgestattet, um so etwas nicht zu denken. Per Mertesacker war nie ein Überflieger, sondern ein arbeitender Fußballer. Ein Narzisst war er, wie es nun scheint, auch nicht. Zum Glück, sonst hätte es seine Gedanken nie gegeben.
Kommentare
Natürlich hat niemand Bock auf das Lamento des Lotto-Gewinners, dass diese Riesensumme auch eine Belastung ist. Schieb rüber das Geld, dafür nehm ich dir die Sorgen ab.
Es zeugt von Reflektionsfähigkeit, alle Dimensionen einer Position so einwandfrei formulieren zu können. Das ist bei einem Job, für den man sich entscheiden muss, wenn man noch längst nicht alle Facetten, die dies impliziert, übersehen kann, keine Selbstverständlichkeit. Daumen hoch Herr Mertesacker, dass Sie Sich das bei den erwartbaren Schmähungen trauen.
Es gibt keinen Grund Herrn Mertesacker für seine Entscheidungen zu schmähen, aber er ist eben nicht alleine auf der Welt. Die meisten Menschen müssen täglich in ihrem Job, ihrem Studium, der Ausbildung, der Schule, in ihrer Freizeit und/oder bei ehrenamtlichen Engagement entscheiden wie viel sie bereit sind zu geben.
Es gibt Menschen, die können Leistung bringen wie verrückt und kommen damit klar. Die meisten Menschen kommen aber früher oder später an den Punkt, an dem sie merken, dass sie nicht mehr leisten können. Oder sie sind so entspannt, dass sie gar nicht erst versuchen zu viel Leistung zu bringen.
Priviligiert ist eben, wer in dieser Situation zurückschalten kann. Wenn neben dem Job noch Angehörige pflegen muss, der kann eben unter Umständen wenig ändern. Wer krank ist, der muss trotzdem weiter irgendwie funktionieren.
Herr Mertesacker hat genügend verdient und genügend erreicht, dass er zurückschalten kann. Und es haben genug Leute auch im Fußball gezeigt, dass das möglich ist.
Ist es gut, dass er offen über seine Probleme redet? Auf jedenfall! Denn er ist Teil eines völlig abgedrehten LEistungs- und Marketingsprinzip. Und es schadet absolut nicht Vereine, Trainer aber auch den den normalen Fan mal daran zu erinnern, dass es sich um Menschen handelt. Vielleicht sensibilisiert es auch dafür, dass auch Fußballer mehr psychologische Hilfe brauchen. Aber ich kann eben auch Kollegen von ihm verstehen, die Fragen, warum er nicht einfach aufgehört hat.
Ist ja jetzt nicht so, dass man ihn quasi als Galeerensklaven gezwungen hat, bei der WM aufzutreten usw...
Behauptet das irgend jemand, gar er selbst ?
Auch Peer Mertesacker ist nur ein klitzekleiner Teil der Marketingindustrie, hier Fußball genannt.
Solange um kurz vor Acht die Bösennews verlesen werden, anstatt mit relevanten Informationen den Tag ausklingen zu lassen, darf man sich nicht wundern, dass alles dem Geld untergeordnet wird.
Mit anderen Worten: Wenn Peer das nicht schafft, dann gibt es ca. 100 andere, die ihn ersetzen können.
Nicht auszudenken, würde man jedem Menschen eine Öffentlichkeit geben, der morgens mit Magenschmerzen zur Arbeit geht. Das würde wahrscheinlich in keine Zeitung passen.
Ich bezweifle, dass es zu Mertesackers Spitzenzeiten 100 bessere Innenverteidiger gab.
"Die Branche zuckt mit den Schultern. Wie es den Menschen in ihr geht, ist egal. "
Seit dem Tod von Robert Enke haben wohl einige Leute in der Branche noch immer nichts dazugelernt.
Es ist gut, dass Mertesacker so offen über seine Ängste spricht.
Ich sehe, was Sie ausdrücken wollen. Damit die von Ihnen genannten Leute aber was dazulernen, wäre es erforderlich, wenn mehr Spieler während Ihrer Karriere darüber reden und nicht erst dann, wenn sie in den Sonnenuntergang reiten.
Abgesehen davon, Enke war krank. Das ist aus meiner Sicht nicht vergleichbar.