Es sind Tausende und sie kommen jeden Tag wieder. Ende März versammelten sie sich zum ersten Mal nach einer Großdemonstration auf der Place de la République in Paris, um die Nacht über da zu bleiben. Nuit debout heißt die Bewegung, was grob mit nachts aufstehen übersetzt werden kann. Zelte wurden errichtet, es gibt Vollversammlungen und politische Diskussionsrunden.
"Sie haben Milliarden, aber wir sind Millionen", steht auf einem Transparent. Ausgangspunkt der Bewegung sind geplante liberale Wirtschaftsreformen der französischen Regierung, aber wie immer geht es längst um mehr: gegen eine visionslose Politik des weiter so, gegen das Europa der Austeritätspolitik und also irgendwie für eine bessere Welt. Vergangenes Wochenende hat der frühere griechische Finanzminister Yanis Varoufakis vorbeigeguckt und erzählt, dass er in seinem Ministerjob in einem Hochhaus residierte und von seinem Büro aus auf den Syntagma-Platz geblickt hat, den zentralen Platz vor dem Athener Parlament.
"90 Tage lang hatten wir diesen Platz besetzt. Das ist der Platz, auf den ich gehöre, nicht dieses Büro", habe er einem Besucher erklärt. Varoufakis Geschichte ist mehr als ein herzerwärmendes Bonmot, das die Besetzer auf der Place de la République naheliegenderweise gerne hören. Diese Anekdote wirft direkt die Frage der Wirksamkeit von Bewegungen wie Nuit debout auf.
Denn es ist natürlich nicht die erste Bewegung dieser Art, und was sie bewirken können, ist nicht immer klar. Manche verpuffen folgenlos, andere zeitigen Langzeitwirkungen.
Nehmen wir nur Occupy Wall Street. Es gibt von Slavoj Žižek eine längst legendäre Videoaufnahme, als er am Höhepunkt der Occupy-Wall-Street-Bewegung auf dem New Yorker Liberty Plaza eine Rede hält. Da Mikrophone nicht erlaubt sind, spricht der linke Philosoph immer einen oder zwei Sätze, die dann von den Hunderten Nächststehenden laut wiederholt werden – sodass auch die Tausenden anderen etwas hören können. Žižek, mit seinem schweren, osteuropäischen Englisch – stets wiederholt von einem vielhundertköpfigen Chor. Ein witziges Dokument.
"Es gibt eine Gefahr", sagt er am Ende seiner Rede. "Verliebt Euch nicht zu sehr in Euch. Wir haben hier eine schöne Zeit. Aber vergesst nicht, Karneval ist einfach. Was aber zählt, ist der Tag danach. Wird sich danach etwas geändert haben? Ich will nicht, dass Ihr Euch irgendwann an diese Tage erinnert und das einzige, was man sagen kann, ist: 'Oh, wir waren jung und es war großartig.'"
Nachdem die Besetzungsbewegung folgenlos versandet und in die üblichen linken Basisrituale versunken war, fragte Le Monde Diplomatique ein paar Monate später: "Warum ist sie (die OWS-Bewegung) gescheitert und hat alle zunächst so hoffnungsfrohen Erwartungen krass enttäuscht? Warum versinken selbst die populärsten Aktionen der Linken früher oder später in einem Gebräu aus akademischer Rhetorik und sinnloser antihierarchischer, antietatistischer Kraftmeierei?"
Die Bewegungen hinterlassen Spuren
Aber so folgenlos, wie gerne unterstellt, verpuffen solche Bewegungen auch wieder nicht. Die Wirksamkeit ist nur nicht leicht messbar und die Kapillaren und Umwege, über die sie sie entfalten, sind nicht immer offensichtlich. Man kann nämlich auch sagen: Ohne die Occupy-Wall-Street-Bewegung wäre der erstaunliche Erfolg der Bernie-Sanders-Kampagne bei den Vorwahlen der US-Demokraten völlig unmöglich gewesen.
Die Bewegung der Indignados – der Empörten – in Spanien wiederum war eine Zufuhr politischer Energie, die ganz erhebliche Folgen zeitigte und die Syntagma-Besetzer schufen mit ein politisches Klima, das den zweifachen Wahlsieg der linken Syriza-Partei 2015 erst ermöglichte.
In Spanien besetzten im Jahr 2011 Tausende junge Menschen am 15. Mai die Porta del Sol im Zentrum Madrids – weshalb üblicherweise von der 15M-Bewegung gesprochen wird. Damals regierte noch die sozialdemokratische Zapatero-Regierung, die aber die Austeritätspolitik nach der Finanzkrise einfach exekutierte. Die Bewegung richtete sich dagegen, aber auch ganz generell gegen das verkrustete Zwei-Parteien-System von sozialdemokratischer PSOE und konservativer PP.
Kurzfristig profitierte die konservative Volkspartei vom Niedergang der PSOE. Die Basisbewegung konnte unmittelbar im Zentrum des politischen Geschehens nicht wirksam werden, aber sie etablierte langfristige Aktivistennetzwerke und elektrisierte eine ganze Generation. Wenige Jahre später wurde die Linkspartei Podemos gegründet, die bei den jüngsten Parlamentswahlen die Sozialdemokraten beinahe einholte und auf Anhieb 20 Prozent schaffte.
Noch interessanter ist aber womöglich, dass linke Basisbewegungen Wahlbündnisse schmiedeten, die in vielen großen Städten die Mehrheit gewonnen hatten, etwa in Madrid, in Barcelona und anderen Städten. Die charismatische Ada Colau etwa, die davor an der Spitze einer Bewegung gegen Zwangsräumungen aktiv war, ist heute Bürgermeisterin von Barcelona. In vielen Regionen koalieren die bunten Bewegungsparteien schon mit der sozialdemokratischen PSOE. "Wir sind die Rebel Cities, die rebellischen Städte", sagt Gerardo Pisarello, der Vizebürgermeister von Barcelona.
Die neuen Bewegungen können also durchaus Energiezufuhren für das demokratische System sein, die Wirksamkeit entfalten. Dabei sind sie freilich nie bloße Fußtruppen linker Parteien. Selbst die neue spanische Linkspartei Podemos tut sich schwer mit den losen, fluiden Netzwerken, da sich deren Protagonisten nicht gerne vereinnahmen lassen – auch von rebellischen Linksparteien nicht. "Die 300.000 Menschen, die am 15. Mai 2011 auf über 80 Plätzen in Spanien zusammenkommen, sind ein bisschen liberal, ein bisschen links, ein bisschen internet-affin und politisch oft völlig unerfahren", beschreibt der Berliner Autor Raul Zelik die Szenerie. Mehr noch: Die meisten derer, die zusammenkommen, sind von all dem ein bisschen zugleich. Parteikader sehen anders aus.
Kommentare
"Was von den linken Parties bleibt" ...
... ist der Rauch.
Und was bleibt von Ihrem hinausgebellten Kommentar? Schall!
Jedem der sich für eine bessere Welt engagiert, gehört mein Respekt. Da frage ich nicht mal nach Effizienz.
Es bleibt sowieso immer etwas übrig. Sogar von Ihrem Kommentar.
Viel Wirbel?
Medienwirbel vielleicht .....
Nein, das nennt man Politik. Wer sich politisch nicht engagiert, wer von Politik bloß liest oder über diese schreibt, glaubt in der Regel, dass wenn er seine Hand hebt oder seinen Fuß versetzt, die Politik und die Öffentlichkeit sich ändert. Das ist albern.
Man beachte all die vielen partizipativen Veranstaltungen der Bundesregierung, des Bundestags, aller möglichen Städte und Kommunen -- und die Presse schreibt über diese nicht einmal, wenn 100.000 Menschen teilnehmen. Das ist Politik. Politik ist nun einmal nicht Hollywood.
Ich bin entschieden gegen Pegida & Co., aber politisch betrachtet ist Pegida ein bisschen die Antwort auf den Artikel. Wenn ich eine öffentlichkeitswirksame Bewegung starte, wenn ich in den Medien bin, bin ich dumm, wenn ich keine Partei wie AfD gründe, die diesen Geist weiterträgt und -entwickelt.
Wenn linke Bewegungen beeindruckende Bewegungen lancieren, aber am Ende keine Parteien gründen, die daraus praktische Politik machen -- ja nun, dann ist der Effekt dahin. Die paar Zeit-, FAZ-, SZ-Autoren, die dann bei Champagner über die Gesellschaft referieren bewegen bekanntlich nichts.
Die linken Initiatoren wissen das natürlich. Sie wollen jedoch krampfhaft, dass bestehende Parteien wie SPD oder Linke von neuen Bewegungen profitieren. Doch so einfach ist das nicht, und daran erkranken nachgerade Nationen mit starren Parteisystemen wie Deutschland oder USA.
Kann man Griechenland endlich mal den Hahn zudrehen? Diese Insolvenzverschleppung ist sinnlos.
U.A. die Deutsche Bank verschleppt doch die Insolvenz :P
Richtig. Zu Gläubigern gehören aber auch Schuldner. Die Schulden sind ja nicht wie einem griechischen Drama deus ex machina entstanden. Deswegen sollten marktwirtschaftlich korrekt sowohl die Banken als auch Griechenland für diese Scheiße haften.
Und was machen Sie mit den Griechen?
Nein. Der Gläubiger "haftet" nicht, er bekommt nur seine Forderungen nicht bezahlt, muss sie also abschreiben; und der Schuldner würde zwar "haften", aber wenn er nicht zahlen kann, wird letztlich ein (Groß-)Teil seiner Schulden annulliert. So funktioniert Wirtschaft. Dumm ist es dann, wenn der Gläubiger ein demokratischer Staat ist, wo der Finanzminister dem Parlament erzählt hat, all das Geld sei ja Kredit und würde zurückgezahlt – da ist die Bereitschaft, die Forderungen abzuschreiben, gering, während für Banken das Abschreiben uneinbringlicher Forderungen ein alltäglicher Vorgang ist. Allerdings ändert die fehlende Bereitschaft der Gläubiger (etwa des deutschen Bundestages), Forderungen abzuschreiben, nichts daran, dass Griechenland sie nicht bezahlen kann. Wer sich konstant einredet, der andere würde doch noch bezahlen, schadet dem Schuldner, ohne selbst etwas davon zu haben. Die deutschen Politiker versuchen nur noch, nicht als derjenige dazustehen, der entweder alle anderen angelogen hat oder der sich hat anlügen lassen.
Zu weit gefragt...soweit reichen einfach Antworten nun mal nicht aus.
Das wäre gar nicht nötig, wenn die Herrschaften endlich mal durchgreifen würden. Stichwort: Legarde-Liste.
Wenn Griechenland mal Nägel mit Köpfen gemacht hätte, dann wäre die Sache längst ausgestanden.
Ich kann nicht verstehen, wie ein Politiker der lebenslang versorgt ist, nicht einfach macht, was nötig ist. Mir wäre es egal, was wer da zu schreien hat. Da würde ich das umsetzen, was ich für richtig halte.
Aber da kann man mal sehen, wie die Linken wirklich denken.
Abgesehen davon: WAS hat Ihr Kommentar eigentlich mit dem Artikel zu tun, außer dass besagte Zusammenfindungen eben auch in Griechenland passierten? Ähnlich der Geschichte vom Opossum nehmen Sie das als Aufhänger, um Griechenbashing zu betreiben.
Thema verfehlt.
Nö. Die ganzen linken Bewegungen, auch die mit dem lieben Varou drauf, waren ja für die Insolvenzverschleppung. Das ist Fakt und kein Bashing.
Hatten Sie mal Wirtschaftsunterricht in der 9. Klasse? oO Respekt. Inwiefern widerpsricht das meiner Aussage? Was bewirken denn Abschreibungen, wenn diese bilanzwirksam bzw. haushaltswirksam werden? :D
Die Griechen bauen sich außerhalb des Euros auf sehr viel bescheideneren Wohltandsniveau wieder eine Wirtschaft auf. Dann kann auch wieder wie gewohnt inflationiert werden, wenn man zu teuer wird. Nur eben auf eigene Kosten.
"Die neuen Bewegungen können also durchaus Energiezufuhren für das demokratische System sein, die Wirksamkeit entfalten."
Selbstverständlich, alles und jeder hinterlässt Spuren. Ich wundere mich jedoch, warum die Politik solche Bewegungen meist skeptisch betrachtet. Angesichts der weltpolitischen Lage, müsste doch die Politik froh sein, dass es Impulse aus der Gesellschaft gibt.
Doch scheinbar lässt der Konkurrenzgedanke in der Politik dies nicht zu. Vielleicht ist das neoliberale Weltbild auch nur eine Kopie der Politik, die sich nur mit Ellenbogen zu helfen versteht.
Wer trifft sich regelmäßig nachts um politische Themen zu wälzen? Doch nur Leute, die sich für die Zukunft des Landes oder der Welt interessieren. Eigentlich müsste die jeweilige Regierung Häppchen servieren und dankbar sein.
"Die Sozialistische Partei von Präsident François Hollande ist abgewirtschaftet, aber es steht keine modernere Linkspartei bereit, die sie kurzfristig beerben wird."
Da ich kein Experte für französische Politik bin, schaue ich nach Deutschland und frage, welche der etablierten Altparteien nicht abgewirtschaftet ist? Vielleicht tragen solche Bewegungen mehr zum Fortschritt bei, als sämtliche Parteien, die lediglich nach Stimmen trachten und denen das Feedback der Bevölkerung eher lästig ist.
" es steht keine modernere Linkspartei bereit".
Es liegt wohl daran, dass es keine "moderne" Linkspartei geben kann. Die linken Parteien definierten sich über die soziale Frage. In der Lösung der sozialen Fragen wurden sie allerdings von den Konservativen weit übertroffen. Bismarck schuf die Sozialversicherungen, die katholische Sozialethik verdammte die Ausbeutung, Ludwig Erhard wollte "Wohlstand für Alle". Die Linken in Deutschland hingegen haben die DDR zustande gebracht und arbeiten weiter an "Armut für Alle" im Volksheim. Das ist deren Vorstellung von Gerechtigkeit. Wer mehr haben will, soll doch Mülleimer durchwühlen. Gleichschaltung der Menschen bis ins Hirn.
Links -also sozial- das waren Fragen des 19. und 20. Jahrhunderts*. Das Thema des 21. Jahrhunderts wird Verteilungsgerechtigkeit sein, innerstaatlich und global. Dabei hat "links" nichts anzubieten. weil es auch intellektuell nur noch arme Schlucker sind, die randalieren und gröhlen.
*Was immer dabei vergessen wird, ist, dass selbst die Germanen -die schon im 4. Jahrtausend v. Chr. demokratisch organisiert waren- auch die Allmende kannten, ein Sozialwerk der Gemeinden für die Armen. Dass "sozial" durchaus nicht eine Errungenschaft der Ideen der Aufklärung ist. Verteilungsgerechtigkeit zeigte sich schon in archaische Horden bei der Verteilung der Beute. Also auch nichts Neues.