Frankenstein-Pflanzen, gnadenlose Agrokonzerne und Glyphosat – diese Worte werden hierzulande oft und gern genutzt, wenn es um Grüne Gentechnik geht. Wie bei anderen modernen Techniken auch, wird die Debatte nur bedingt entlang der Fakten geführt. Einen wesentlichen Anteil daran haben die politischen Akteure, die bei diesem Thema mit unerschrockener Selbsttäuschung und Scheinheiligkeit zu Werke gehen.
Das zeigt etwa ein aktuelles Positionspapier der SPD-Bundestagsfraktion, in dem es heißt: "Die SPD-Bundestagsfraktion will …, dass der Anbau gentechnisch veränderter Pflanzen grundsätzlich und bundesweit verboten werden kann, und somit Äcker und Umwelt in Deutschland gentechnikfrei bleiben. … Die Bundesregierung muss sich bereits beim EU-Zulassungsverfahren gegen die Zulassung aussprechen, um konsequent gegen den Anbau von gentechnisch veränderten Pflanzen einzutreten."
So viel vorab: Ich halte mich für einen Demokraten und habe kein Problem damit, dass "Deutschland gentechnikfrei bleibt", wenn dies die Mehrheit seiner mündigen Bürger so will. Wir sollten aber offen und ehrlich aussprechen, was ein "gentechnikfreies" Deutschland für uns tatsächlich bedeuten würde. Die Nahrungsmittelproduktion in Europa hängt bereits jetzt am Tropf der Produzenten gentechnisch veränderter Nahrungs- und Futtermittel vor allem in Latein- und Nordamerika. Unseren gigantischen Milch- und Fleischbedarf ohne Importe eiweißreicher Futtermittel, insbesondere gentechnisch optimierter Sojabohnen, decken zu können, ist schon vor längerer Zeit unmöglich geworden. Jährlich werden etwa 35 Millionen Tonnen Sojabohnen in die Europäische Union eingeführt, das entspricht ungefähr 65 Kilogramm pro EU-Bürger. Mehr als 80 Prozent der Sojaproduktion basiert inzwischen auf gentechnisch veränderten Sorten, Tendenz steigend. Da die Vorteile der gentechnisch verbesserten Sorten für die Bauern so überwältigend sind, sinkt die Bereitschaft, konventionelle Sorten anzubauen immer weiter. Und das obwohl mit konventionellen Sojabohnen ein höherer Verkaufspreis erzielt werden kann.
Es ist scheinheilig, andere Länder für uns massenhaft Soja anbauen zu lassen
Wenn wir uns also für ein "gentechnikfreies Deutschland" entscheiden, sollten wir es konsequent tun und auf gentechnische Nahrungs- und Futtermittel komplett verzichten. Vor allem sollten wir uns die Scheinheiligkeit ersparen, andere Länder diese Pflanzen für uns anbauen zu lassen, um sie dann möglichst heimlich nach Deutschland zu verschiffen, während wir uns gleichzeitig öffentlichkeitswirksam zur "gentechnikfreien" Zone erklären. Das ist nicht nur unmoralisch, sondern kommt auch einer modernen Form von Kolonialismus gleich – ein zu hoher Preis, um eine Illusion aufrechtzuerhalten und eine ökologisch verbrämte Ideologie auch weiterhin gut verkaufen zu können.
Und doch passt es zur inzwischen in unserer Gesellschaft salonfähig gewordenen Entkopplung als problematisch empfundener Methoden auf der einen Seite und ihrem unbestreitbaren Nutzen auf der anderen: "Nein" zu Tierversuchen, aber "Ja" zu sicheren Medikamenten und unbedenklichen Kosmetika; "Nein" zur Gewinnung von embryonalen Stammzellen, aber "Ja" zur Forschung an importierten Stammzellen, und so weiter.
Die Unehrlichkeit setzt sich bei der Kennzeichnung gentechnisch hergestellter Produkte fort. Sie ist richtig und wichtig, denn sie schafft Wahlfreiheit. Das hat sich bei Bioprodukten hervorragend bewährt, im positiven wie im negativen Sinne. Wer Bio bewusst kaufen will, erkennt es am großen Schriftzug auf der Verpackung und greift zu. Wer Bio aktiv vermeiden will, sei es aus Angst vor Keimen und Mykotoxinen oder aufgrund der regelmäßigen schlechten Qualitätsbewertungen bei der Stiftung Warentest, muss nur nach Produkten schauen, wo nicht in riesigen Lettern "Bio" draufgedruckt ist.
Der EU-Grenzwert für gentechnische Bestandteile ist unsinnig
Genauso sollten alle Produkte gekennzeichnet sein, die mithilfe von Gentechnik hergestellt wurden. Der von der Europäischen Union eingeführte Grenzwert für eine Kennzeichnungspflicht ab 0,9 Prozent gentechnisch veränderte Bestandteile ist willkürlich und daher unsinnig. Dafür gibt es keinerlei wissenschaftliche oder sonstige Begründung. Warum sollte ein Lebensmittel mit 0,8 Prozent gentechnischer Beimischung anders behandelt werden als eine Lebensmittel mit 1,0 Prozent?
Es sollten ausnahmslos alle Produkte gekennzeichnet werden, die bei der Herstellung mit Gentechnik in Kontakt gekommen sind, mindestens aber alle Produkte, in denen die gentechnisch erzeugten Bestandteile nachweisbar sind – sei es DNS, Enzyme oder Vitamine. Alles andere erfüllt den Tatbestand der Verbrauchertäuschung, ist allerdings recht nützlich, um Feindbilder zu pflegen, Ängste zu schüren und die Illusion aufrechtzuerhalten, dass wir uns "gentechnikfrei" ernähren und unsere Politiker sich dafür heldenhaft engagieren. Das Dilemma ist offensichtlich. Eine vollständige Kennzeichnung hieße schon heute, Gentechnikaufdrucke überall im Regal: auf sehr vielen Lebensmitteln wie Käse und Wurst, auf nahezu allen Medikamenten und auch die bunten Euro-Geldscheine würden einen Aufdruck tragen, der darauf hinweist, dass sie aus gentechnisch veränderter Baumwolle hergestellt wurden (hier ist die Wahlfreiheit zugegebenermaßen etwas schwieriger umzusetzen, aber Münzgeld wird momentan noch gentechnikfrei hergestellt und Kartenzahlung ist schließlich auch vielerorts möglich …).
Kommentare
Keine Kritik zur Gentechnik?
Sorry, dieser Artikel wirkt nicht sehr überzeugend.
Das Dilemma
Überzeugend ist auf jeden Fall die Lage, in der wir als Gesellschaft stecken. Und da, wo sich die Gentechnik jetzt befindet, steckt die Pädagogik schon seit mindestens 40 Jahren: Lagerbildung - und wenn gar nichts geht, dann sind die Anderen eben "Nazis".
Aber der Autor gibt versteckt die uralte Frage: "Wie würde denn die Alternative aussehen?"
Was, wenn wir keine Antibiotika entwickelt hätten? Wäre uns dann das Internet erspart geblieben? (... weil der Erfinder niemals geboren worden wäre, da seine Mutter vor seiner Geburt gestorben wäre)
Der Pfad, den wir gegangen sind, können wir nur rückwirkend mit Sinn füllen. Der Nebel lichtet sich gewissermaßen erst, wenn wir zurück schauen. Aus dieser Perspektive kann eben auch nur begrenzt die Richtung vorgegeben werden. Es ist eher ein ständiges Abwägen. Wir bewegen uns im Ungewissen. Und genauso sollten wir uns auch verhalten. Bis zu dem Zeitpunkt, an dem Gewissheit herrscht.
Genauso also wie wir die Erziehung unserer Kinder nicht den Pädagogen, unsere Gesundheit nicht den Medizinern, unser Leben nicht den Theologen überlassen sollten, sollten wir die Ernährung nicht allein den Pflanzentechnikern überlassen.
Bemerge sweet, was der Artikel nicht erwähnt...
Von dem pampigen und arroganten Ton des Verfassers mal abgesehen, erstaunt mich, mit welcher Chuzpe er eine Dilemmata der Gentechnik ignoriert.
Er redet vage dem Verbraucherschutz das Wort; jeder solle selber entscheiden können, ob er gentechnisch manipulierte Produkte kaufen wolle. Er wird sicherlich auch wissen, dass es zwischen gentechnisch veränderten und nicht veränderten Pflanzen zum Austausch von Genmaterial kommt und dass GM-Pflanzen sich jenseits ihrer Felder verbreiten können. Auf Dauer hieße das, dass es praktisch keinen Gentechnik-freien Anbau von üblichen Futterpflanzen mehr geben wird. Sollte die Übertragung von z.B. Glyphosat-resistenten Genen auf artverwandte Wildpflanzen weiter zu nehmen, dann wird dies voraussehbar bei den gewaltigen GM-Getreidemonokulturen zu Problemen führen.
Das gewichtigste Argument gegen Gentechnik berührt der Autor überhaupt nicht. Mit Gentechnik wird die weltweite Nahrungsversorgung irgendwann weitgehend in den Händen einiger weniger Agrarchemiekonzerne liegen. Dieses globale Oligopol wird komplett den Anbau, Handel, und die Bedingungen für Landwirte diktieren. Die weltweite Nahrungsmittelproduktion wäre effektiv - so wie heute schon der Finanzsektor - jeglicher demokratischer Kontrolle entzogen.
Ich finde, die Bevölkerung und ihre Politiker sind gut beraten, diese Punkte äußerst sorgfältig ab zu wägen, bevor sie unumkehrbare Entscheidungen treffen.
Im Kern geht es doch nicht um Gentechnik
Sondern um eine Gesellschaft die den Wohlstand besitzt unangenehme Themen auszublenden.
Unter der Woche beruflich durch die Welt jetten, dank der Karrierekolumne der Zeit ist man ja "Entscheider" geworden, aber sich als Umweltschützer fühlen wenn man dann am Samstag mit dem Rad zum Wochenmarkt fährt.
Die Vorteile eines hochentwickelten Gesundheitssystems werden gerne genommen, aber pharmakologische Forschung wird aus "moralischen" Gründen abgelehnt. Was ist moralisch verwerflicher: pharmakologische Forschung abzulehnen, besonders wenn es um Gentechnik geht, oder die Kranken ihrem Schicksal zu überlassen?
Was die Gentechnik angeht: demnächst 8 oder 9 Milliarden Menschen auf diesem Planeten. Was bitte sollen die Essen? Oder anziehen? Woher soll das Papier kommen auf dem die Wochenzeitungen für uns allle gedruckt werden?
Was wir brauchen ist Realismus! Regelungen für die Gentechnik, wie für jede andere Technik auch, aber Hysterie und Realitätsverweigerung waren noch nie gute Ratgeber.
Genau das ist die Taktik der Gen-Lobby
In Anlehnung an den alten Werbeslogan "sie baden Ihre Hände bereits darin" wird behauptet, es mache sowieso keinen Sinn, sich gegen Gen-Technik zu wehren. Nach dem Sinn und Nutzen (außer für die Gentechnik-Konzerne) wird dann schon niemand mehr fragen, von den Risiken ganz zu schweigen. Dass Menschen, die biologische Veränderungsprozesse und deren Zeitbedarf kennen oder besser kennen sollten, davon sprechen, dass nach deutlich weniger als 50 Jahren Erfahrung mit dem Einsatz gentechnisch veränderter Pflanzen, die Gentechnik mit einem vertretbaren Risiko eingesetzt werden kann, kann ich nur auf die monetären Aspekte der Lobbyarbeit oder fehlende Qualifikation zurückführen.
Genau an den alten Werbespot fühlte ich mich auch erinnert!
Sie waren schneller!
man sollte so einen Artikel ...
vielleicht bis zum Ende lesen:
"Dieser Text ist eine gekürzte Fassung eines Essays, der zuerst im "Laborjournal" erschienen ist."
Kann also gut sein, das da (im Original) noch weitaus mehr drinsteckte.
"Kann also gut sein, das[s]. da weitaus mehr drinsteckte."
Vielleicht sogar ein Disclaimer: Diese "Sendung" wurde Ihnen präsentiert von Monsanto ...