"Meine Karriere war beendet, bevor sie anfing", sagt Anan Alsheikh Haidar. Die syrische Akademikerin wollte in Damaskus den arabischen Frühling unterstützen, doch sie sah sich gezwungen, ihr Land zu verlassen. Nach und nach seien regimekritische Kollegen verhaftet und gefoltert worden, erzählt sie: "Die tägliche Routine wurde riskant." Die Polizei suchte ihren Ehemann, der als Philosoph und Sozialwissenschaftler kritisch über die Machthaber in der Region schrieb. Er musste sich verstecken, Haidar drohte Haft.
Monatelang versuchten beide, das Land zu verlassen, 2014 gelang dem Paar die Flucht. Eine Reise über das Mittelmeer kam nicht in Frage, Schlepper verlangten mehr Geld als sie hatten. Stattdessen floh Haidar über Beirut, Athen, Barcelona und Brüssel nach Dortmund. Ihr Mann wählte eine andere Route. "Hier kommt mein Leben zurück zu mir", sagt die Forscherin, die Ende April auf einem Kongress des internationalen Hilfsnetzwerks "Scholars at Risk" in Berlin über ihre Geschichte sprach.
Haidar ist eine von zahlreichen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, die sich für Freiheit einsetzen und ihre Heimat verlassen mussten. Ob in Syrien, China, der Türkei, teils sogar Ungarn oder den USA – der Ruf nach Demokratie wird vielerorts verachtet, gar als Volksverhetzung verfolgt. Der Ruf nach Freiheit als Aufruf zur Gewalt verstanden. Autoritäre Herrscher fürchten freie Meinungsäußerung und demokratische Entwicklungen, kritische Wissenschaftler werden gekündigt oder ausgewiesen.
Sobald der Staat entscheidet, welches Wissen wertvoll ist, zerstört dies die Forschungsfreiheit
Weil das die Freiheit der gesamten Forschung gefährdet, rufen führende Wissenschaftler Hochschulen weltweit auf, gemeinsam Widerstand zu zeigen. Zunächst gelte es, unzulässigen Einfluss abzuwehren, sagt beispielsweise die Philosophin Judith Butler von der University of California in Berkeley. Denn: Sobald der Staat, die Wirtschaft oder Religion entscheide, welches Wissen wertvoll ist, zerstöre dies die Forschungsfreiheit. Und wenn Verwaltungsmitarbeiter Allianzen mit derartigen externen Kräften eingehen, "beteiligen sie sich an der Vernichtung ihrer eigenen Institutionen".
Weiter seien Universitäten in der Pflicht, verfolgte Forscher aufzunehmen, sagt Susanne Baer, die als Professorin an der Humboldt Universität in Berlin und seit 2011 als Richterin am Bundesverfassungsgericht arbeitet. "Die Demokratie ist unter Beschuss", betonte sie in ihrer Grundsatzrede auf dem Berliner Kongress. Zu den ersten Opfern gehörten Wissenschaftler und Studenten. Es gelte, für die Geflüchteten ein größtmögliches Solidaritätsnetzwerk zu schaffen, darin sind sich Baer und Butler einig.
Stiftungen helfen, Stellen zu vermitteln
In Deutschland trägt dazu beispielsweise die Philipp-Schwartz-Initiative der Alexander-von-Humboldt-Stiftung bei. Sie hilft geflüchteten Akademikern, indem sie mit Unterstützung des Auswärtigen Amts und mehreren Stiftungen Stipendien für Aufenthalte in Deutschland anbietet. So arbeitet Haidar dank der Initiative heute als Wissenschaftlerin. "Das Stipendium erlaubt mir, wieder ein Mensch zu sein", sagt die Juristin. Nach ihrer Flucht und der Zeit in Aufnahmelagern hatte Haidar anfangs Angst, wieder zur Universität zu gehen. Die Kollegen aber haben ihr diese genommen: "Ich fühle, dass ich an einem sicheren Ort bin – und zuhause", sagt sie.
Auch Nil Mutluer gehört zu den Menschen, die von der Stiftung
unterstützt werden. Sie arbeitet heute als Soziologin an der Humboldt
Universität in Berlin, nachdem sie vor gut zwei Jahren die Türkei
verlassen musste. Sie hatte den Aufruf "Academics for Peace" unterschrieben, der Angriffe der türkischen Regierung gegen die Kurden als "Massaker" kritisiert, und wurde deshalb entlassen.
Für Mutluer ist die Flüchtlingskrise tragisch, doch sie sieht darin auch Chancen. Dank neuer Formen der Zusammenarbeit sei es möglich, eine wahrhaft transnationale akademische Umgebung ohne Grenzen zu schaffen, sagt die Soziologin. Eine akademische Welt, in der alle Wissenschaftler ihre Stimme erheben können.
Kommentare
Die Wissenschaft in ihre Schranken weisen ist halt der Traum aller repressiven Regime. Wer erinnert sich nicht an Lysenko und seine kruden Thesen, die eine ganze Generation von Biologen in der SU zu Staatsfeinden deklarierte, wenn diesen nicht folgte. Wahrheit kann man nicht vorschreiben so sehr sich das die Freunde der Autorität auch wünschen mögen. Aber dem erzwungenen Schweigen folgt der Stillstand. Und wer sich der offiziellen Linie nicht beugt, wird als Feind verfolgt.
Lysenko erlebt allerdings heute in der Genetik Forschung eine Rückkehr in der Wissenschaft.
Man erkundet heute, daß erworbene Eigenschaften weitervererbt werden, an Kinder und Kindeskinder. (Stichwort Jüngere interessant 1945 in Holland).
Obwohl es sich mit der Flucht aus repressiven Ländern nicht vergleichen lässt:
Auch deutsche Akademiker fliehen von hier, zwar nicht aus Gründen der Repression, sondern augrund der unterirrdischen finanziellen Sicherheit und der mangelhaften Perspektiven. Brain Drain haben wir als auch.
Und viele ausländische Akademiker machen um das Hochkosten- und Niedriglohnnettoland einen grossen Bogen.
Also ist ein Akademiker offenbar ein wertvollerer Mensch als ein Arbeiter oder Bauer...eine internationale Hilfsorganisation "Peasants at Risk" gibts wohl nicht. Und auch keine Philosophen und Bundesrichter, die eine solche fordern...
Es wird Ihnen keiner offen sagen, aber es gibt tatsächlich diese Unterschiede.
Die EU hat es zum erklärten Ziel, den höchsten wiss. Output aller Wirtschaftsräume zu produzieren. Das sind Wachstumsfaktoren für die. Wer mit Recherchedatenbanken zu tun hat, weiß auch wieviel davon komplett überflüssig ist. Aber der Experte und Researcher ist eine Hochwertfigur.
Nicht zuletzt begründet er ja die Legitimität der nicht gewählten EU-Kommission, die mit Expertenhilfe „das richtigste und beste“ ermittelt.
Warum wohl fließt ein irres Geld in Expertenhochburgen, ThinkTanks, Forschungsprojekte, Reise- und Stipendienprogramme und andere akademische Bereiche? Um harte Physik oder wirklich ergebnisoffene Sozialstudien und Politikanalysen handelt es sich dabei in den selteneren Fällen. Es wird die Loyalität einer potentiell kritischen Gruppe gebunden. Sie sollten mal sehen wie ein mittelmäßiger Konfliktforscher herumgockelt wenn er sechs Monate New York bezahlt bekommt.
Ein Job im Dunstkreis Brüssels ist dann der Jackpot. So ausgesorgt hat man nirgends sonst. Voraussetzung: Befähigung zur wiss. Bestellungsarbeit.
(Grüße auch an den March for Science - das sind dieselben).
Das heißt: man muß nicht mehr an Leib und Leben bedroht sein um einen Status zu bekommen. Die Behinderung akademischer Arbeit reicht?
Bedrohung, Folter und Todesurteile als Behinderung akademischer Arbeit zu bezeichnen ist schon mutig.