Mehrere neue Großstädte ließen sich gründen mit all den Kindern, die laut den aktuellsten Daten von 2016 in Deutschland geboren wurden – 792.131 Babys waren es, um ganz genau zu sein. Rein theoretisch natürlich. Und man muss dazu sagen: Immer noch sterben hierzulande mehr Menschen, als Mädchen und Jungen geboren werden. 2016 kamen aber rund 55.000 mehr Säuglinge zur Welt als im Jahr davor. Und schaut man vier Jahre zurück, ist der Anstieg sogar doppelt so groß. Zeigen sich hier die Anzeichen für einen neuen Babyboom?
Diese Vermutung kommt seit einiger Zeit immer dann auf, wenn das Statistische Bundesamt seine neueste Geburtenstatistik veröffentlicht. Den jüngsten Zahlen zufolge stellten Deutschlands Mütter einen neuen Rekord für die Geburtenrate auf: 1,59 Kinder pro Frau – so viel Nachwuchs wurde per Definition durchschnittlich geboren, wenn man die Anzahl der Neugeborenen auf ein ganzes Frauenleben hochrechnet. Höher lag die Geburtenrate zuletzt im Jahr 1972.
Doch wie kommt es zu dieser Entwicklung? Wer sind Deutschlands Mütter und wieso entscheiden sie sich wieder häufiger dafür, Kinder zu bekommen? Welche Rolle spielen Kultur, wirtschaftliche Situation und Zusammensetzung der Bevölkerung dabei? Ein Blick in die Daten liefert vor allem drei Gründe.
1. Viele Frauen bekommen mehr Kinder als wenige Frauen
Besonders hoch war die Geburtenrate in Deutschland schon einmal. Die in den Jahren zwischen 1950 und 1960 geborenen Menschen nennen Demographinnen und Demographen Babyboomer. Der Grund für die hohen Geburtenraten: das Ende des Zweiten Weltkrieges. Junge Männer kehrten von der Front zurück und gründeten die Familien, die ihnen während der Kriegszeit verwehrt geblieben waren. Mit einem neuen Gefühl der Sicherheit konnten sie optimistisch in ihre Zukunft blicken. Auch finanziell, denn in dieser Zeit erlebte das Land mit dem Wirtschaftswunder einen Aufschwung.
Den Babyboom gab es damals aber nicht nur in Deutschland. Weltweit stiegen die Geburtenzahlen in der Nachkriegszeit an, eine wohl typische Entwicklung nach dem Ende großer Krisen. Ähnliches beobachteten Forscherinnen und Wissenschaftler auch, als der Koreakrieg vorbei war.
Während die Generation der Babyboomer jetzt langsam ins Rentenalter kommt, sind es heute ihre Töchter, die schwanger werden und Nachwuchs bekommen. Sie haben zwar durchschnittlich eher wenige Kinder, insgesamt wurden von ihnen trotzdem viele Kinder geboren, einfach weil sie so viele waren. So gelten wiederum auch die Jahrgänge ihrer Kinder als vergleichsweise geburtenstark. Und viele von ihnen sind heute Ende 20 bis Mitte 30. Die erste Erklärung für den Anstieg an Geburten im Jahr 2016 findet sich also schlicht darin, dass momentan viele Frauen in einem Alter sind, um Mütter zu werden. Das alles lässt sich immer noch als Effekt der Nachkriegsgeneration sehen.
Überhaupt spiegeln sich in der Geburtenstatistik hin und wieder große politische Ereignisse wider. Beispielsweise gab es den größten Geburteneinbruch nach der Wende, vor allem im Osten Deutschlands. Während dort zu DDR-Zeiten noch mehr Kinder geboren wurden als im Westen, sank die Geburtenrate nach der Wiedervereinigung um etwa die Hälfte. Rund zehn Jahre dauerte es, bis sie wieder stieg und sich der Rate im Westen ungefähr angeglichen hatte.
2. Krieg und Konflikte verschieben den Nachwuchs
Vor fast 70 Jahren war es noch der Zweite Weltkrieg – mittlerweile beeinflussen Konflikte im Nahen Osten die Geburtenzahlen. Viele Mütter, die nicht in Deutschland geboren wurden – etwa aus Syrien, Afghanistan und dem Irak – haben 2015 und 2016 ihre Kinder in Deutschland zur Welt gebracht: Von den insgesamt 792.131 Mädchen und Jungen hatte etwa ein Viertel, 184.700, eine Mutter ohne deutsche Staatsangehörigkeit – rund 18.500 von ihnen waren syrischstämmig. Im Jahr 2015 lag der Anteil der Kinder mit nichtdeutschen Müttern noch bei etwa einem Fünftel – aus Syrien kamen in dieser Zeit nur die Mütter von 4.800 Neugeborenen.
Erklärung Nummer zwei für den Geburtenanstieg ist also die Migration. Wo viele Frauen zugewandert sind, da werden auch viele Kinder geboren. Das zeigt sich gut, wie schon erwähnt, am Beispiel Syrien: 326.900 Einreisen syrischer Staatsbürgerinnen und Staatsbürger registrierte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) im Jahr 2015 – weniger als ein Drittel davon, etwa 110.000, waren Frauen (Migrationsbericht 2015: BAMF, 2016 als PDF). "Viele von ihnen kamen in ihrer reproduktiven Phase nach Deutschland. Sie sind verhältnismäßig jung, verglichen mit der deutschen Gesamtbevölkerung, und kamen oft im Familienverbund", sagt die Soziologin Anne-Kristin Kuhnt. Sie forscht an der Universität Duisburg-Essen unter anderem daran, wie
Familien sich im Kontext von Migration und Integration verhalten. Für sie ist es kaum verwunderlich, dass gerade jetzt die Zahl der Geburten angestiegen ist. "Viele der geflüchteten Frauen kommen aus Ländern, in denen es üblich ist, viele Kinder zu bekommen, und sie befinden sich jetzt in der Altersphase der Familiengründung und -erweiterung."
Das Babyboomer-Phänomen, das Deutschland die besonders geburtenstarken Jahrgänge in den 1950ern und 1960ern bescherte, könnte auch hier eine kleine Rolle spielen. "Familien schieben Geburten unter schlechten Bedingungen durchaus auf. Das passiert unter anderem dann, wenn die Infrastruktur in den Herkunftsländern sehr schlecht ist – etwa bei der Gesundheitsversorgung", sagt Kuhnt. Das bedeute allerdings nur, dass sich der Zeitpunkt, an dem der Nachwuchs gezeugt und ausgetragen wird, verschiebt. "Bekommen hätten die Familien ihre Kinder auf jeden Fall."
Kommentare
"3. Frauen werden erst später Mütter" - Das ist auch der Grund, aus dem die UN ihre Welt-Bevölkerungsprognose alle paar Jahre nach oben korrigieren.
"Allein um die aktuelle Anzahl an Menschen im Land zu erhalten, müsste jede Frau im Durchschnitt etwa 2,1 Kinder bekommen." - Das stimmt nicht, wenn die Lebensdauer weiter ansteigt. Dann sind natürlich weniger Kinder notwendig.
Verstehe ich auch nicht.
Erstens sind etwas mehr als die Hälfte der Einwohner weiblich und zweitens stieg die Lebenserwartung in der Vergangenheit mit jedem Geburtsjahrgang.
Bei dem Faktor 2,1 scheint die Säuglingssterblichkeit noch irgenwie mit eingerechnet zu sein. Die ist aber meines Wissens in der durchschnittlichen Lebenserwartung bereits eingerechnet.
Oder irre ich mich da?
Denken sie über ihren letzten Satz nochmals nach. Ist eine höhere Lebenserwartung nicht nur ein Randeffekt, der das Problem nur "streckt"?
@15Hefti
>> Ist eine höhere Lebenserwartung nicht nur ein Randeffekt, der das Problem nur "streckt"? <<
Welches Problem?
Von den Neugeborenen in Deutschland sind etwa 51% männlich und 49% weiblich. Vielleicht wird deshalb mit 2,1 Kindern für den Erhalt der Bevölkerung gerechnet.
Aufgrund der höheren Sterblichkeit der Männer durch Unfälle, Gewalt und Krankheiten aufgrund ungesunder Lebensweise gibt es bei den älteren Jahrgängen einen Frauenüberschuss.
@Betta-Splendens
Hmm.
2,1 x 49% ergibt 102,9%.
???
Natürlich ist das so.
Unsterblichkeit ist glaube ich noch nicht so weit verbreitet.
Es wird anscheinend sowohl der geringere Anteil weiblicher Säuglinge als auch die Sterblichkeit vor Erreichen der Pubertät eingerechnet um auf die 2,1 Kinder pro Frau zu kommen.
Mädchen die schon vor der Pubertät sterben werden wohl nicht als Frauen (die im Schnitt 2,1 Kinder bekommen müssten) mitgezählt sonst ergibt es keinen Sinn.
"Mädchen die schon vor der Pubertät sterben werden wohl nicht als Frauen (die im Schnitt 2,1 Kinder bekommen müssten) mitgezählt sonst ergibt es keinen Sinn."
Danke.
Damit muss es wohl irgendwie zusammenhängen.
Wenn alle Frauen das gebärfähige Alter erreichen würden bräuchte man
100/49 = 2,04 Geburten/Frau.
Die fehlenden 0,6% liegen wohl daran, dass dieser Prozentsatz nicht das gebärfähige Alter erreicht.
Oder so ähnlich ...:-)
Insgesamt bin ich bei den Statistiken für Deutschland und daraus folgenden Prognosen skeptisch. Zum einen können gewisse Aussagen nur für Jahrgänge erfolgen, die vor Mitte der siebziger Jahre geboren wurden. Zum anderen sind gerade diese Jahrgänge noch von einem starken Ungleichgewicht der Geschlechter betroffen, hervorgerufen durch die Vernichtung von Millionen zeugungsfähiger Männer in zwei Kriegen. Diese Delle wurde erst vor kurzer Zeit geglättet. Und dann natürlich der Pillenknick, das Ende der Babyboomer, der nicht einmal erwähnt wurde, obwohl er wunderbar in der Grafik auftaucht.
Alles singuläre Ereignisse, die Prognosen aufgrund historischer Daten erschweren.
Wenn er sich so wie in den vergangenen 120 Jahren kontinuierlich fortsetzt, hat er genau den beschriebenen Einfluss. Die tatsächliche Geburtenrate, die zum Erhalt der Bevölkerung führt, dürfte in Deutschland um 1,9 liegen.
2,1 ist auch nur der aufgerundete Wert. Der tatsächliche für Deutschland liegt bei 2,06-2,07.
Zumal es ja auch nicht wünschenswert ist, das die Lebensarbeitszeit immer weiter steigt.
1. Dass die Geburtenrate (Kinder pro Frau) steigt, wenn es eine starke Kohorte (viele Frauen) gibt, leuchtet nicht ein.
2. Von einem neuen"Babyboom" zu sprechen, ist stark übertrieben bei einer Geburtenrate (1,59) unterhalb des Niveaus der Reproduktion (2,1).
Doch - wenn die Kohorte nicht einfach nur "viele Frauen" heißt, sondern "viele Frauen in gebärfähigem Alter"
Einen Effekt gibt es auch noch: den der Gewöhnung. Sowohl in Kriegszeiten als auch in ökonomisch unsicheren Zeiten werden weniger Kinder geboren. Dauert der Zustand aber länger an und wird "Normalität", so gleichen sich auch wieder die Geburtenraten an. So mag es sein, dass die Babyboomer in einem sicheren ökonomischen Umfeld lebten, deren Kinder aber mit Massenarbeitslosigkeit aufwuchsen. Deren Kinder wiederum sind gleich mit unsicheren Arbeitsverhältnissen aufgewachsen. Es ist also nicht Neues, nichts Erschreckendes und nichts mehr, was anders ist als bei ihren Eltern. Deshalb wird auch in grösserer Unsicherheit mehr geboren.
Habe sie dafür auch nur den geringsten Beleg?
"Viele der geflüchteten Frauen kommen aus Ländern, in denen es üblich ist, viele Kinder zu bekommen und sie befinden sich jetzt in der Altersphase der Familiengründung und -erweiterung."
Aber genau das hat doch Hans Rosling in seinem Buch Factfulness wiederlegt. Es gibt nur eine Korrelation zwischen Armut und Anzahl der Kinder. Nicht aber durch Religion, Herkunft oder sonstiges.
Wer immer das ist und ob die Ursache stimmt oder nicht, die beiden Aussagen widersprechen sich ja nicht: „In Armutsländern ist es üblich, viele Kinder zu haben.“, um das ganze zusammenzufassen.