In Europa sind seelische Leiden zur größten gesundheitspolitischen Herausforderung geworden. Das geht aus einer Studie hervor, die auf dem Neuropharmakologie-Kongress in Paris vorgestellt wurde. Danach leiden 38,2 Prozent der Europäer jedes Jahr unter einer klinisch bedeutsamen psychischen Störung.
Für die Untersuchung wertete das Forscherteam um Studienleiter Hans-Ulrich Wittchen von der Universität Dresden Gesundheitsdaten aller 27 EU-Mitgliedsstaaten aus. Zusätzlich flossen Erhebungen aus der Schweiz, Island und Norwegen ein. Am häufigsten verbreitet sind demnach Angststörungen (14 Prozent), gefolgt von Schlafstörungen (7 Prozent) und bestimmte Formen der Depression (6,9 Prozent). Immerhin 6,3 Prozent der Europäer leiden unter Beschwerden, wie Kopf-, Rücken- oder Magenschmerzen, die nicht körperlich erklärt werden können. Mediziner sprechen dann von psychosomatischen Erkrankungen. Die Ergebnisse der Studie werden im Magazin European Neuropsychopharmacology veröffentlicht.
Der Anteil der Alkohol- und Drogenabhängigen im Bezug auf die Gesamtbevölkerung variierte in den europäischen Ländern sehr stark. Mit durchschnittlich weniger als vier Prozent machten die Suchterkrankungen nach der aktuellen Datenauswertung nur einen relativ geringen Teil der psychischen Leiden aus.
Die meisten psychischen Störungen betreffen alle Schichten und Altersgruppen. Eine Besonderheit ist die Aufmerksamkeits- und Hyperaktivitätsstörung ADHS . Sie wird immerhin bei fünf Prozent aller Kinder- und Jugendlichen diagnostiziert. Unter Demenz leidet etwa jeder hundertste EU-Bürger zwischen 60 und 65 Jahren. Unter den über 85-Jährigen ist fast ein Drittel von Demenz betroffen.
Ein Problem bei der Behandlung psychischer Störungen sehen die Forscher darin, dass Psychiater, Neurologen, Psychotherapeuten und Psychologen sehr verschiedene Konzepte in Forschung und Praxis sowie Diagnostik und Therapie haben. Außerdem würden seelische Leiden noch immer gesellschaftlich und politisch marginalisiert und stigmatisiert. "Das niedrige Problembewusstsein gekoppelt mit dem Unwissen über das wahre Ausmaß hinsichtlich Häufigkeit, Belastungen und Kosten psychischer Störungen in allen Gesellschaften und Schichten, ist das zentrales Hindernis für die Bewältigung dieser Herausforderung", sagte der Dresdner Psychologe Wittchen.
Außer im Fall der altersbedingten Demenzerkrankungen, die mit wachsender Lebenserwartung der Bevölkerung häufiger werden, sind seelische Leiden in Europa nicht häufiger als im Jahr 2005. Damals hatte es eine erste große europäische Studie dazu gegeben. Der Eindruck, psychische Störungen nähmen zu, entstehe vor allem dadurch, dass Patienten sich inzwischen auch offen Hilfe holen, Therapie-Möglichkeiten bekannter werden und das Thema in der Öffentlichkeit präsenter ist. Allerdings erhält nicht einmal ein Drittel aller Betroffenen professionelle Hilfe. Oft beginnt eine Therapie viel zu spät. Und häufig hilft sie den Patienten dann nicht mehr.
Korrekturhinweis: Eine falsch zitierte Zahlenangabe zur Einwohnerzahl der EU wurde nachträglich aus dem Artikel gestrichen.
Kommentare
Anzahl der Europäer
"Danach leiden von den 164,8 Millionen Europäern jedes Jahr 38,2 Prozent unter einer klinisch bedeutsamen psychischen Störung."
Worauf bezieht sich diese Zahl? Sind die 164,8 Millionen etwa die 38,2%? Dann kommt man auf 431 Millionen insgesamt, was immer noch etwas weniger als die Einwohnerzahl von EU-27 ist.
fehler
Liebe/r Langeland, Sie haben Recht, da ist uns ein Fehler unterlaufen. Wir haben das geändert.
Beste Grüße,
Christian Bangel
Scheibenkleister
Ich bin gleich bei Depressionen und ADHS mit dabei. Pech gehabt :(
Fühlen Sie sich auch so
oder hat man Ihnen das einfach erzählt?
Die Rechnung geht auf.
Ohne Ironie.
Genau dies ist so gewünscht. Angst macht unfrei und lähmt.
Who ?
Von wem ist dieser Zustand Ihrer Meinung nach gewünscht?
mfg
wieso krankheit..
ich dachte immer ADHS ist von der pharmaindustrie erfunden
worden?
Jein,
ein richtiges ADHS gibt es mit Sicherheit. Man kennt doch schon Berichte vom sprichwörtlichen "Zappelphilipp" aus dem 19. Jh. Es hat wohl schon immer Kinder gegeben, die entsprechende Symptome zeigten. Die Existenz der Krankheit komplett zu verleugnen, hilft den Betroffenen vermutlich am wenigsten.
Dennoch gebe ich Ihnen zum Teil auch Recht: vermutlich wird ADHS viel häufiger diagnostiziert als es der tatsächlichen Prävalenz in der Gesellschaft entspricht. Daran trägt vermutlich auch die Pharmaindustrie eine Teilschuld, aber sicher nicht die alleinige. Unsere Gesellschaft als Ganzes ist mittlerweile für so etwas ja überhaupt empfänglich geworden. Noch vor 10 Jahren war das doch skandalös, zum Psycho-Doc zu gehen oder sein Kind dahin zu schicken (oder wenn, durfte es eben keiner mitbekommen). Neulich hörte ich in einer ganz normalen Dorfkneipe einen alten Mann von seinem "ADHS-Enkel" und dessen Therapieerfolgen erzählen. Und einige kannten Ähnliches von ihren Enkeln oder den Kindern sonstiger Bekannte. Einerseits finde ich das zwar gut, dass über solche Themen nun gesprochen werden kann. Andererseits hat das aber den Nachteil, dass ein Kind beim Arzt vielleicht zu früh eine Diagnose erhält, die aufgrund der Bekanntheit und der relativen Akzeptanz dann auch schnell angenommen wird (zumindest von manchen Eltern - so 'ne Diagnose ist ja auch eine feine Entschuldigung im Zweifelsfall und die Tabletten sind doch ganz praktisch).