Experten sprechen längst von "Volkskrankheiten". Psychische Erkrankungen und Verhaltensstörungen sind bei Arbeitnehmern der zweithäufigste Grund für Fehltage. Betroffene sind Durchschnitt 40 Tage lang krankgeschrieben – im Vergleich ist das die längste Krankheitsdauer. Und die seelisch Erkrankten stellen die mit Abstand größte Gruppe derer, die Erwerbsminderungsrenten beantragt.
Wissenschaftler an den Universitäten Gießen und Heidelberg haben deshalb im Auftrag der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV) die psychologische Versorgung in Deutschland untersucht. Das Ergebnis der jetzt veröffentlichten Studie : Es fehlt nicht an Plätzen und Experten für Tiefenpsychologie oder Psychoanalyse, sondern an flexiblen und schnellen Hilfsangeboten in akuten Belastungssituationen. Es gebe "dringenden Handlungsbedarf" bei den Versorgungsschnittstellen und im niedrigschweliigen Bereich, sagt KBV-Chef Andreas Köhler. Übersetzt heißt das: Das System ist zu starr und zu wenig am Bedarf orientiert.
Ein Beispiel ist der psychotherapeutische Behandlungsbedarf von körperlich Erkrankten. Dieser sei bisher "so gut wie gar nicht gedeckt", klagt Herbert Menzel, der Vorsitzende des Berufsverbands der Fachärzte für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie . Dabei benötigten 42 Prozent der Herzkranken und bis zu 36 Prozent der Rheuma-Patienten psychotherapeutische Hilfe. Und Menschen mit Krebsdiagnose sei wenig geholfen, wenn sich nach monatelanger Wartezeit irgendein noch so versierter Tiefenpsychologe mit ihren Kindheitsmustern befasst.
Vielen Patienten mit körperlichen Erkrankungen fehlt die richtige psychologische Betreuung
"Beträchtlich unter- und fehlversorgt" ist aus Expertensicht aber noch eine weitere Patientengruppe: Menschen, die an somatoformen Störungen leiden. Jeder vierte Patient in der Primärversorgung laboriere an körperlichen Beschwerden ohne organische Ursache, berichtet Menzel. In der Gastroenterologie sei es sogar jeder zweite. Diese Menschen litten enorm, fühlten sich krank und seien oft auch arbeitsunfähig. Doch fast 60 Prozent der Betroffenen wanderten mit ihren Symptomen von Arzt zu Arzt und würden nicht adäquat behandelt. Die Folge: zusätzliches Patientenleid aufgrund ständig neuer Untersuchungen und hohe Kosten für die Krankenkassen.
Um in solchen Fällen wirksam zu helfen, bedürfe es gemeinsamer Versorgungsmodelle und einer deutlich besseren Verzahnung, fordert Menzel. Schließlich seien Hausärzte, Gynäkologen oder Orthopäden bei mehr als der Hälfte der Betroffenen die ersten Ansprechpartner. Und die Mehrheit bestehe auf der Behandlung durch diese Ärzte und verweigere den Gang zum Psychotherapeuten oder psychosomatischen Facharzt.
Aufgrund langer Wartezeiten selbst in Ballungsgebieten gehe es für psychisch Erkrankte oft nur noch um die Frage, ob und wann sie überhaupt eine Therapie bekämen, sagt Köhler. Allein die Behandlungszahl zu steigern, würde den Patienten aber nicht helfen. Die Leistung müsse "schnell und passgenau" erfolgen, dies gelte es bei der Reform der Bedarfsplanung zu berücksichtigen. Und dafür wäre es auch hilfreich, von den Krankenkassen Zahlen über die Versorgung psychisch Kranker in den Kliniken zu bekommen.
Kommentare
Oft hat man
Entfernt. Bitte bemühen Sie sich um sachliche Diskussionsbeiträge. Danke. Die Redaktion/vn
Vorurteil
Ein unschönes Vorurteil. Ohne belastbare Belege würde ich Derartiges nicht propagieren.
Wenn man eine Versorgung für Patienten mit Akuterkrankung
vorrätig halten möchte, braucht man Kliniken, in denen die Psychotherapeuten fest angestellt sind und nicht einen Patienten haben, der ihnen dann nach kurzer Therapie wieder abhanden kommt.
Nicht umsonst sind "Experten für Tiefenpsychologie oder Psychoanalyse" reichlich vorhanden und können Plätze in absehbarer Zeit anbieten. Wer solche Patienten in die Praxis läßt, hat auf überschaubar lange Zeit sein Einkommen und damit den Bestand der Praxis gesichert und als Unternehmer mit Praxis ist es im eigenen Interesse sich zu finanzieren.
Wieso also sollte man sich die Anstrengung auferlegen, für Akutpatienten Plätze vorrätig zu halten, die unter Umständen ungenutzt bleiben und nichts erwirtschaften?
Und viele Journalisten ...
wissen offensichtlich nicht so ganz genau, worüber sie schreiben. Die psychologischen Psychotherapeuten behandeln laut eben dieser zitierten Studie 187 Fälle/Praxis, die ärztlichen Therapeuten etwa ebenso viele, Fachärzte (Nervenheilkunde) etwa 3.200/Praxis (wobei diese Behandlung in den wenigsten Fällen die Bezeichnung Psychotherapie verdient).
Kommt man jedoch zu den "Schulen" und den Psycholog/innen, dann wird klar, daß die Aussage, es gäbe genügend (im Sinne von "zu viel") Therapeut/innen mit tiefenpsychologischen Hintergrund, nicht so ganz zutrifft: 24% tiefenpsychologischen Verfahren stehen 47% VT gegenüber - und die VT gefällt sich ja eben in der Stringenz ihres Verfahrens (freundlich formuliert). Was anderes hätte auch gewundert: schließlich sind 80% der Lehrstühle an den Unis mit VT´lern besetzt und die VT-Ausbildung ist deutlich preiswerter als eine tiefenpsychologische. Zudem sollte man auch noch anmerken, daß bei den Zulassungen der Kassen lediglich VT und tiefenpsychologische Verfahren eine Chance haben: alles andere wird weggebügelt.
Weiterhin ist erwähnenswert, daß gerade die Psychosomatik auch und gerade in der Medizin ein Schattendasein führt: hier wird traditionell weiter medikamentös behandelt, weil es ja "der Wille der Patienten" sei - und die (Schul-)Medizin eben lediglich die Somatik "kann".
Insgesamt gesehen ist das Thema also ein wenig komplexer als angedeutet ... .
Evidence Based Psychosomatik.
Auch die Psychosomatik ist EBM und damit "Schulmedizin"....
Das sie immer noch ein Leben im Halbschatten fristet ist allerdings schade.
Zum Thema:
"Experten für Tiefenpsychologie oder Psychoanalyse gibt es reichlich – flexible und kurzfristige Hilfsangebote für psychisch Kranke fehlen trotzdem."
Was heißt hier trotzdem? Verwendet der Autor Psychoanalyse als Synonym für den Oberbegriff Psychotherapie?
Bitte I
setzen Sie sich mit dem Berufsrecht für Psychotherapeuten auseinander, ehe sie einen solchen Artikel veröffentlichen.
In einem Punkt haben Sie Recht: Ja, in Deutschland gibt es in den meisten Gebieten eine Überversorgung von Psychotherapie. Diese besteht allerdings nur auf dem Papier. Wie kommt das?
Mit Inkrafttreten des Psychotherapeutengesetzes 1999 wurde Psychotherapie eine Leistung der gesetzlichen Krankenkassen. Davor galt ambulante Psychotherapie in der Regel nicht als Krankenbehandlung, die von diesen Krankenkassen getragen wurde. Ähnlich wie bei den Ärzten galt es, den Bedarf für diese Leistung festzustellen und die Niederlassung von Psychotherapeuten zu regeln. Es gibt pro Bezirk eine feste Anzahl von niedergelassenen Psychotherapeuten, die ihre Leistungen mit den Krankenkassen abrechnen dürfen. Praxissitze werden von den kassenärztlichen Vereinigungen erteilt. Und diese orientieren sich nach wie vor an der Verteilung der 1999 niedergelassenen Psychotherapeuten (als Psychotherapie noch aus der eigenen Tasche zu bezahlen war).
Das bedeutet: Nach mehr als 20 Jahren wurde der tatsächliche Bedarf nie ermittelt.
Das Warum liegt auf der Hand. Die Schwierigkeiten von Patienten, einen Therapieplatz zu erhalten (Wartezeiten von durchschnittlich 4 Monaten), zeigt, dass trotz der Überversorgung, welche die kassenärztlichen Vereinigungen zu sehen glauben, anscheinend doch ein höherer Bedarf besteht, welche die augenblickliche Versorgungssituation nicht zu decken vermag.