ZEIT ONLINE: "Mach irgendwas anderes, aber schüttle nie dein Baby!" – das ist eine Botschaft, mit der sich Ärzte gerade bundesweit an die Öffentlichkeit wenden. Heute startet die Kinder- und Jugendstiftung API die Kampagne #schüttelntötet, für die auch Sie sich engagieren. Plakate zeigen Spuren elterlicher Ausraster – von Wutausbrüchen, ungezügelter Aggression. Eine an der Wand zerschmetterte Kaffeetasse zum Beispiel oder eine zertretene Computertastatur. Darunter die Botschaft "Dreh' durch, flipp' aus – aber schüttle nie dein Baby!" Was steckt dahinter?
Dragana Seifert: Heftiges Schütteln kann Babys töten, aber fast die Hälfte der Erwachsenen weiß darüber offenbar zu wenig. Jedes Jahr sterben Kinder hierzulande an den Folgen oder sind ein Leben lang schwerstbehindert. Darüber soll diese Kampagne aufklären – und zwar auf eine Art, die direkter an jungen Eltern dran ist als bisherige öffentliche Empfehlungen.
ZEIT ONLINE: Was ist so gefährlich daran, ein Baby zu schütteln?
Seifert: Das Köpfchen von Neugeborenen und Kleinkindern bis etwa einem Jahr ist im Vergleich zum Rest des Kinderkörpers noch recht groß und schwer. Ihre Nackenmuskulatur ist aber noch zu schwach, als dass sie den Kopf selbst halten könnten. Packt nun jemand ein Baby an Armen oder Oberkörper und schüttelt es heftig, fällt der Kopf ungebremst nach vorn und hinten.
ZEIT ONLINE: Mit welchen Folgen?
Seifert: Feine Äderchen, die sogenannten Brückenvenen, reißen. Es kommt zu Blutungen unterhalb der harten Hirnhaut. Das Hirngewebe eines Säuglings ist viel verletzlicher als bei Erwachsenen, die Nervenfasern und die Nervenbahnen werden geschädigt. Es kann zu Netzhautblutungen kommen. In einigen Fällen erblinden die Kinder, bekommen heftige epileptische Anfälle oder erleiden so schwere bleibende Hirnschäden, dass nur noch Maschinen sie künstlich am Leben halten.
ZEIT ONLINE: Und das von ein bisschen Schütteln?
Seifert: Hier geht es um starkes Schütteln. Das Spektrum der Folgen reicht von leichten kognitiven Schäden, die erst im Schulalter auffallen, bis hin zum Tod. Ähnlich wie bei einem Schleudertrauma kann ein einzelner Ruck schon folgenschwer sein. Erwachsene können im Affekt auch ihre Kraft unterschätzen. Wurde ein Baby geschüttelt, egal wie kräftig oder lange, muss es umgehend zum Arzt. Und ganz wichtig: Die Eltern, Verwandten oder Betreuer müssen sofort erzählen, was passiert ist. Denn mit jeder Stunde, die ein Schütteltrauma nicht erkannt wird, sinkt die Chance, dass wir Ärzte dem Kind noch helfen können.
ZEIT ONLINE: Welche Symptome deuten auf ein Schütteltrauma hin?
Seifert: Eltern berichten uns häufig, dass das Baby auf einmal schlapp wie eine Puppe gewesen sei, reglos und apathisch. Häufig verweigern betroffene Kinder das Essen oder sie erbrechen. So war es auch im Fall des 2015 in Hamburg verstorbenen Tayler. Erst als der heftige Krampfanfälle bekam, wurde er in die Notaufnahme gebracht.
ZEIT ONLINE: Der Täter in diesem Fall – der ehemalige Lebensgefährte der Mutter – wurde zu elf Jahren Gefängnis verurteilt. Gleichzeitig fordern Sie, wer sein Kind geschüttelt hat, solle sofort in eine Klinik und die Wahrheit erzählen. Aber das Schütteln ist Kindesmisshandlung. Und wer es tut, macht sich strafbar.
Seifert: Ein Arzt in der Notaufnahme wird sich kaum damit
aufhalten, Eltern zu beschuldigen, sondern zuerst alles tun, um dem Baby zu
helfen. Und ganz ehrlich: Wenn ein schweres Schütteltrauma vorliegt, kommt das irgendwann sowieso raus. Geplatzte Adern im Augenhintergrund, Krampfanfälle, Blutungen unterhalb der harten Hirnhaut, Schwellungen des Gehirns – spätestens dann schöpfen Ärzte Verdacht und schalten Rechtsmediziner wie mich ein. Wissen die Ärzte aber sofort Bescheid, können sie die richtigen Notfallmaßnahmen einleiten und schnell mit der gezielten Therapie beginnen. Das kann das Leben des Babys vielleicht retten und Spätfolgen abmildern. Wenn Ärzte aber bis zur Diagnose zwei bis drei Tage verlieren, weil Eltern in der Notaufnahme eine andere Geschichte erzählen, verlieren sie wertvolle Zeit.
ZEIT ONLINE: Und die ersten Anzeichen sind ja recht unspezifisch …
Seifert: Genau. Blässe, Appetitlosigkeit, eine seltsame Atmung und Erbrechen können die ersten Symptome nach einem Schütteltrauma sein.
ZEIT ONLINE: Wobei das Eltern jetzt auch große Angst machen kann. Soll jeder, der mit seinem Baby im Auto eine Vollbremsung gemacht hat oder dem der Kopf des Kindes nach hinten gefallen ist, in die Notaufnahme?
Seifert: Grundsätzlich gilt für Säuglinge und Kleinkinder: lieber einmal zu oft, als im Ernstfall nicht ins Krankenhaus – und zwar rechtzeitig. Besonders bei Verdacht auf ein Schädel-Hirn-Trauma.
Kommentare
Gute Aktion. Ähnliche Kampagnen gegen Alkoholkonsum in der Schwangerschaft wären auch begrüßenswert.
Zigaretten und Drogen nicht vergessen...
Dragana Seifert: "Heftiges Schütteln kann Babys töten, aber fast die Hälfte der Erwachsenen in Deutschland weiß das nicht."
Hat Frau Seifert dazu eine Umfrage durchgeführt oder gibt es eine Studie, um diese Zahl zu belegen?
Denn auch wenn man in meiner Generation erst dann so richtig über Kinder bescheid wusste, wenn man selbst welche hatte, eines wusste jeder Teenager: dass man beim Halten eines Babys den Kopf stützen muss, weil der Säugling seinen Kopf nicht selbst halten kann.
Nichts gegen die Aufklärungskampagne.
Und mit "lieber eine Rauchen gehen" wird eher die bildungsferne Schicht gemeint sein, denn welche Eltern rauchen, wenn sie ein Baby haben?
Liebe/r atech,
Frau Dr. Seifert bezieht sich hier auf eine Befragung des Nationalen Zentrums Frühe Hilfen, Details dazu finden Sie hier und im Kasten des Interviews:
https://www.fruehehilfen....
Herzliche Grüße!
Entfernt. Bitte verfassen Sie sachliche Kommentare. Danke, die Redaktion/rc
Der Kommentar, auf den Sie Bezug nehmen, wurde bereits entfernt.
Wichtigster Satz:
"Sie sollten gedanklich darauf vorbereitet sein, dass mit einem Säugling oder Kleinkind eine Situation der Überforderung eintreten kann."
Mythen vom Elternglück erscheinen mir deswegen wirklich gefährlich.
Sie verhindern erstens, dass (werdende) Eltern rechtzeitig ein realistisches Bild von den Grenzsituationen bekommen, die sie erleben werden. Diese 24/7 Dauerzuständigkeit für ein völlig unselbstständiges Wesen ist nämlich mit praktisch keinem anderen Stress vergleichbar, den man zuvor vielleicht schon mal durchgehalten hat.
Sie verhindern zweitens, dass die Allgemeinheit, das persönliche Umfeld etc wirklich rechtzeitig unterstützend da ist. Erwarten ja in der Regel alle, dass das jetzt so toll ist, mit dem süßen kleinen Baby. Eltern schämen sich deswegen für die Aggressionen, die sie gegenüber ihrem Baby empfinden.
Um es auf jeden Fall dazuzusagen: Es ist wunderschön, mit Baby, aber eben nicht nur und nicht so, wie das mythische Bild vom Elternglück suggeriert. Den Stress und die Grenzerfahrungen, die man zwischendurch - und manchmal über lange Strecken - immer wieder hat, unterschätzen glaube ich alle, wirklich alle, Eltern.
Wobei man auch relativieren muss: Einen Großteil des Stresses macht man sich selbst. Sogar bei Schreikindern. Nicht, weil man schuld ist, sondern sich eine Unzulänglichkeit einredet. Natürlich sollte man Kinder nicht einfach schreien/toben/trotzen lassen, sondern ihnen zumindest beistehen, wenn man es schon nicht verhindern kann (aber immer steckt hinter einem Eskalieren ein Bedürfnis des Kindes, auch wenn man dieses als Erwachsener in dem Moment nicht nachvollziehen kann). Aber im Zweifelsfall schreit es halt mal - da darf man nicht denken, schlechte Eltern zu sein, sondern kann ruhig Ohrenstöpsel reinmachen und entspannt weiter wickeln, füttern oder was weiß ich. Auch nicht, wenn die Leute auf der Straße gucken oder die Nachbarn genervt sind. Es ist nicht schlimm, wenn ein Kind "Theater" macht. Nachts muss man sich halt abwechseln, damit der Schlafentzug nicht bei einem Elternteil akkumuliert. Oder mal Schnuller/Flasche nicht sterilisieren, damit das Kind schneller ruhig ist, als die 15min es wegen der Hygiene weiter brüllen zu lassen - solche Shortcuts entspannen allgemein. Eiskalt beim Bäcker stillen oder auf der Parkbank wickeln, egal, was andere vermeintlich denken könnten. Alles ist besser, als sich selbst zu zerfleischen und das irgendwann auf das Baby überspringen zu lassen.