Wie aus dem Nichts hört Claudia* Stimmen. Ein geschäftiges Treiben im Hintergrund, metallisches Klappern. Und plötzlich kann sie nicht mehr atmen, fühlt sich, als würde ihr jemand die Luftröhre von beiden Seiten zudrücken. "Ich kriege keine Luft, ich kriege keine Luft", denkt Claudia, kann aber nichts sagen. In Todesangst versucht sie, sich zu bewegen. Sie will ihre Augen aufreißen oder auch nur den kleinen Finger heben. Doch es gelingt ihr nicht – denn ihr Körper ist gelähmt. "Warum kriegen die nicht mit, dass ich sterbe?", denkt sie verzweifelt. Vor ihrem inneren Auge sieht sie ihre Familie; ihren Mann und ihre zwei Kinder. Schließlich ruft irgendjemand: "Wieso bewegt die ihre Beine?" Dann wird es laut, hektisch. Scheppernd fällt etwas zu Boden und Claudia sinkt zurück in die Bewusstlosigkeit.
Warum kriegen die nicht mit, dass ich sterbe?
So erzählt es die 55-Jährige heute. Fünf Jahre ist es her, dass sie während einer Schilddrüsenoperation, unmittelbar vor dem Schnitt in ihren Hals, für einige Minuten wach war. Der Tubus, der ihr zur Beatmung während der Narkose eingeführt wurde, hatte das Gefühl der Atemnot ausgelöst. Das weiß Claudia jetzt. Doch damals war sie sicher, sterben zu müssen.
Wie
häufig Wachphänomene während einer Narkose, sogenannte
Awareness-Fälle, tatsächlich auftreten, kann nicht mit
hundertprozentiger Sicherheit festgestellt werden. Vor zehn Jahren
ermittelten Wissenschaftler, dass schätzungsweise ein bis zwei von
1.000 Patientinnen und Patienten während einer Operation aufwachen (British Journal of Anaesthesia, Errando et al., 2008).
Selten, aber nicht ausgeschlossen
"Diese Angaben sind allerdings mit Vorsicht zu genießen, ganz sicher wissen wir es nicht", sagt Gerhard Schneider. Er ist der Direktor der Klinik für Anästhesiologie des Klinikums rechts der Isar an der Technischen Universität München. Im Rahmen der Studie aus 2008 wurde jeder Patient im Anschluss an die Operation wiederholt gefragt, ob er sich an irgendetwas erinnere. Daher liege die Vermutung nahe, dass die Untersuchenden durch das mehrfache Wiederholen der Frage falsche Erinnerungen erregt hätten und die Zahl deshalb möglicherweise zu hoch sei, sagt Schneider.
Bei einer anderen Erhebung des britischen National Audit Project im Jahr 2014 hatten Wissenschaftler nur diejenigen Fälle gezählt, bei denen die Patientinnen und Patienten von selbst von der Wachheit berichtet hatten – und kamen mit einer Häufigkeit von einem unter 19.600 auf eine deutlich niedrigere Anzahl. "Wir können nicht davon ausgehen, dass alle Menschen, die wach waren, ihrem Anästhesisten ungefragt davon erzählen", sagt Gerhard Schneider. "Die tatsächlichen Zahlen liegen demnach vermutlich im Bereich zwischen diesen beiden Studienergebnissen."
Damit sei die Awareness eine Komplikation, die auftreten kann, aber selten ist, sagt der Arzt. Es gibt mehrere Faktoren, die das Risiko für eine Wachheit erhöhen. Dazu gehören unter anderem Medikamentenmissbrauch, chronische Schmerzmedikation oder eine früher schon mal aufgetretene Awareness. Ebenfalls besteht bei denjenigen Patienten eine erhöhte Gefahr, die bewusst niedrige Anästhetikadosen bekommen, weil höhere Menge den Kreislauf zu stark belasten würden: Menschen mit einer schweren Herzerkrankung beispielsweise oder jenen, die im Vorfeld etwa durch einem Unfall viel Blut verloren haben. (Siehe Anesthesia and Analgesia: Sebel et al., 2004 sowie ebenda Ghoneim et al., 2009) Wenn möglich, sollten Patienten und Ärzte vor einer Operation ein ausführliches Gespräch führen. Der Arzt oder die Ärztin kann darin aufklären und der Patient oder die Patientin sollte offen sprechen, etwa über Vorerkrankungen, Medikamenten- oder Drogenkonsum oder ob er schon einmal eine Awareness hatte.
"Was ist das Letzte, woran Sie sich erinnern können?"
Auch bei
Kaiserschnittentbindungen dosieren Ärzte Narkosemittel gering,
damit die Medikation den Säugling nicht zu stark belastet (Current Opinion in Anaesthesiology: Dahl & Spreng, 2009). Vergleichende
Studien deuten außerdem an, dass in Narkosen, in denen
auch Muskelrelaxantien gegeben werden mussten, höhere
Awareness-Raten vorkamen (Lancet: Sandin et al., 2000). Patienten bekommen diese Mittel vor der Operation verabreicht, damit sich die Skelettmuskulatur entspannt und sich während des Eingriffs nicht störend bewegt. Die Relaxantien verhindern zudem, dass sich der Mensch auf dem Operationstisch gegen den Beatmungstubus wehrt.
"Die
Gabe von Muskelrelaxantien erhöht vor allem das Risiko, dass die operierenden Ärzte eine
Awareness nicht sofort bemerken", sagt Gerhard Schneider, "da
Bewegung ein wichtiger Hinweis für Wachheit sein kann". Darüber
hinaus seien Stresssignale des Körpers wie hoher Blutdruck oder
Schwitzen mögliche Zeichen dafür, dass jemand wach wird oder
wach ist. Zusätzlich versuchen einige Krankenhäuser, eine
Awareness frühzeitig festzustellen, indem sie Gehirnströme messen.
Ein Interview nach der Operation
kann durch Fragen wie "Was ist das Letzte, woran Sie sich erinnern
können?" oder "Haben Sie während der Narkose etwas geträumt?"
zusätzliche Anhaltspunkte liefern.
Als Wachheit gelten in Deutschland alle Situationen, in denen ein Mensch trotz einer Narkose Reize wahrnimmt und im Gehirn verarbeitet. Das Spektrum dieser Wahrnehmung ist breit. Es reicht von den dramatischsten – und gleichzeitig seltensten – Fällen, in denen der Patient seine Umwelt vollständig bewusst miterlebt, Schmerzen empfindet und all dies im Anschluss auch erinnern kann, bis zu einer Wachheit ohne Schmerzen und ohne anschließende Erinnerung. Diese leichten Formen der Awareness müssten aber ebenfalls ernst genommen werden, sagt Gerhard Schneider: "Das Gefühl des Ausgeliefertseins oder des Nichtwissens, was mit einem passiert, kann auch ohne Schmerzen und sogar ohne eine bewusste Erinnerung ausreichen, um ein Trauma auszulösen." Denn auch das unbewusste Gedächtnis speichert während einer Wachphase Informationen. Die können möglicherweise erst Wochen später für diffuse Ängste ohne unmittelbar erkennbaren Grund sorgen – beispielsweise für Angst vor dem Ersticken. Weil sich die Betroffenen aber nicht bewusst erinnern, gehen Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen davon aus, dass es mehr Awareness-Fälle gibt als erfasst werden.
* Name von der Redaktion geändert
Kommentare
Tja, bestimmt ein unschönes Erlebnis, aber vermutlich besser dass 1,2 oder 3 pro tausend während der OP aufwachen als dass durch eine "höhere Dosierung" 1,2 oder 3 pro tausend zusätzlich nicht mehr aufwachen.
1. Die narkosebedingte Mortalität liegt bei etwa 1:250.000, wobei jedesmal(!) ist eine fehlerhafte Handlung des Anästhesisten festgestellt werden kann.
2. Awareness kommt IMMER durch zu flache Narkose zustande.
3. Ein kleiner Teil der Anästhesisten macht Anästhesie, weil sie schon immer Anästhesie machen wollte.
Die meisten Anästhesisten sind Anästhesisten geworden, weil sie keine "anständige" Stelle bekommen haben und vorübergehend in der Anästhesie unterkommen, um Notfallmedizin zu lernen (notwendig zum Notarztfahren) und die Zeit zu überrücken wollen. Die Hälfte dieser Leute sind klug und fähig, so dass sie kurz oder lang eine anständige Stelle (Innere, Chirurgie, Gyn, ...usw.) bekommen. Die Unfähigen bleiben in der Anästhesie für immer. ... weiter zu Punkt 1. und 2.
Ich hatte auch einmal das "vergnügen" so etwas mitzuerleben, da war ich so ca 4 Jahre alt. Ich weiß nicht mehr viel aus der Zeit, aber so etwas prägt sich sehr stark ein.
Gottseidank wars nur ein kleiner eingriff...
Jepp. Ich auch – auch in dem Alter.
War allerdings schon ein schwerer Eingriff und es fiel wohl auf. Zumindest erinnere ich mich, dass ich dann wegtrat. Ich habe nur den Anfang der OP mitbekommen. Vielleicht hat die Wirkung einfach nur später eingesetzt, als erwartet.
Gehört auch zu den wenigen Dingen, an die ich mich aus dem Alter erinnern kann.
Die gute Frau war 5min wach und der Schock ist so groß?
Klar das Gefühl war scheiße aber sie hatte ja jetzt nicht unerträgliche Schmerzen oder so, die OP hatte ja nicht mal angefangen
Tut mir leid für sie aber sie klingt auch sehr empfindlich
Die Menschen können es sich nicht aussuchen, wie empfindlich sie sind.
Sie aber können es nun ganz und gar nicht beurteilen, zumal Sie ja nicht einmal sagen können, wie es Ihnen in einer vergleichbaren Situation ergehen würde.
Gänzlich vermeiden wird man das wohl nie, jedenfalls in absehbarer Zeit nicht.
Fehler passieren.
Fatal jedoch wäre, wenn man den Menschen eine grundsätzliche Angst vor jeder Operation mit Vollnarkose vermitteln würde.
Der Schaden, auch für den Einzelnen, wäre um ein Vielfaches grösser.
Genau das wird bei einigen jedoch die Folge der Lektüre dieses Artikel sein. Da bin ich sehr sicher.