Schon kurz nach der Ansteckung klagten viele Patientinnen und Patienten über Atemnot und entwickelten eine Lungenentzündung. Typisch für die Spanische Grippe waren zwei rotbraune Flecken auf den Wangen, die sich über das Gesicht ausbreiteten, "bis man Farbige kaum noch von Weißen unterscheiden konnte", so zitiert die britische Wissenschaftsjournalistin Laura Spinney einen US-Militärarzt in ihrem bemerkenswerten Buch 1918 – Die Welt im Fieber. Die Ärzte hatten keinen Schimmer von den Erregern. Influenzaviren wurden erst 1933 entdeckt. In ihrer Verzweiflung, die Krankheit nicht aufhalten zu können, klammerten sie sich an eine genaue Beschreibung des Verlaufs. Solange die Verfärbung des Gesichts rot blieb, schienen die Patientinnen und Patienten eine Chance auf Genesung zu haben. Sobald sich jedoch "eine violette, lavendel- oder malvenfarbene Nuance ins Rot mischte", waren die Aussichten düster, zitiert Spinney aus den Arztberichten. Allmählich verfärbten sich Hände, Füße und Nägel. Am Ende waren auch Bauch und Oberkörper schwarz – "als ob der Tod von den Fingerspitzen aus vom ganzen Körper Besitz ergriff".
Folgen der Grippe machten Donald Trumps Familie wohlhabend
Das Außergewöhnliche an Spinneys Blick zurück in die Historie der Spanischen Grippe sind nicht allein die detailreichen, aus Augenzeugenberichten von Ärzten, Schwestern und Pflegern mühsam aus Archiven zusammengetragenen Beschreibungen der Seuche. Spinney ist es auch gelungen, ein facettenreiches Bild von den Veränderungen in der Gesellschaft zu zeichnen, die auf die Pandemie zurückzuführen sind. Dabei hat sie sich einer Methode bedient, die Frauen im südlichen Afrika nutzen, wenn sie über ein wichtiges Ereignis im Leben ihrer Gemeinschaft sprechen: "Sie beschreiben es und umkreisen es dann (...) und kehren immer wieder zurück, erweitern es und fügen Erinnerungen und Vorahnungen hinzu", zitiert Spinney den Historiker Terence Ranger. Der Autorin gelingt das meisterhaft und sie bringt dem Leser damit nicht nur das biologische Phänomen, sondern auch die sozialen, historischen, geografischen und kulturellen Ebenen der Pandemie näher.
Die wirtschaftlichen Folgen des millionenfachen Todes lassen sich naturgemäß am einfachsten beziffern. Die amerikanischen Lebensversicherer etwa mussten fast hundert Millionen Dollar auszahlen – was heute etwa 20 Milliarden Dollar entsprechen würde. Um diese trockene Zahl ein wenig plausibler zu machen, nennt Spinney ein Beispiel: die Witwe und den Sohn eines deutschen Einwanderers, der an der Spanischen Grippe gestorben war, und die ihr Geld in Immobilien investierten. Noch heute profitiert ihr Enkel davon in einem Ausmaß, dass er Milliardär und sogar Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika werden konnte: Donald Trump.
Spannend zu lesen sind auch die Auswirkungen der Seuche auf das Vertrauen in die Forschung. "Der Wissenschaft ist es nicht gelungen, uns zu schützen", schrieb die New York Times damals. Die Pandemie ließ die viktorianische Wissenschafts- und Technikgläubigkeit schwinden. Die Menschen folgten bereitwilliger selbst ernannten Propheten, Wunderheilern, Chiropraktikern und Homöopathen. Einen großen Unterschied machte es ohnehin nicht, denn selbst wenn die Ärzte von den Viren schon gewusst hätten, was hätten sie ausrichten können? "Die viktorianische Wissenschaft hätte die Welt hart, sauber und kahl hinterlassen wie eine Mondlandschaft", zitiert Spinney den Sherlock-Holmes-Autor Arthur Conan Doyle. Nachdem der Erfinder des wissenschaftlichsten aller Detektive seinen Sohn durch die Spanische Grippe verloren hatte, wurde er zum Spiritisten, glaubte an Ektoplasma und meinte fortan: "In Wirklichkeit ist diese Wissenschaft nur ein kleines Licht in der Dunkelheit, und außerhalb dieses begrenzten Lichtkreises konkreten Wissens werfen gigantische, fantastische Möglichkeiten ständig so bedrohliche Schatten auf unser Bewusstsein, dass es schwierig ist, sie zu ignorieren." Die Wissenschaften lernten die Demut kennen. Es könne kein Wissen ohne Ungewissheit geben, sagten etwa Niels Bohr und Werner Heisenberg in der Dekade nach der Pandemie.
Darf man diese realistischere Selbstreflexion der Wissenschaft, die Gründung von Gesundheitssystemen, von Wohlfahrtsorganisationen und den wirtschaftlichen Aufschwung in den sogenannten goldenen Zwanzigern überhaupt als positive Effekte nach der Seuche bezeichnen – oder wäre das angesichts von Millionen von Toten und Waisen zynisch? Es wäre wohl eine viel größere Katastrophe, hätten die Menschen aus der Pandemie nichts gelernt. Immerhin ist die Menschheit heute gegen diese Art von Viren besser gewappnet – sowohl durch Medikamente als auch durch Impfstoffe und wachsame Gesundheitseinrichtungen, sagt Giovanni Mancarella von der Europäischen Seuchenbehörde ECDC. Seine Portion Demut hat er jedoch gelernt: "Auch hundert Jahre danach haben wir keinen Mechanismus, um eine erneute Pandemie völlig auszuschließen."
Kommentare
"Wäre so ein Ausbruch wieder möglich?"
Warum nicht. Und neben der Grippe lauern noch ein paar weitere Zoonosen auf ihren Start. Die Evolution schläft nicht.
Nicht im Glyphosat, den Neonicotinoiden oder der grünen Gentechnik liegen die größten Gefahren ...
Könnten wir vielleicht damit aufhören Themen gegeneinander auszuspielen? Die Grippe hat nichts mit den genannten Dingen zu tun und zumindest Glyphosat und die Neonicotinoide sind ein ernstes Thema...oder sollten es sein.
Zumal Sie die Größe der jeweiligen Gefahren mit Sicherheit nicht quantitativ erfassen können.
Glyphosphat und Neonicotinoiden mögen ok sein, grüne Gentechnik nicht....
Gerade bei der heutigen Grünen Gentechnik liegt das Gefahrenpotenzial für den Menschen bei exakt Null. Für die Natur bietet sie mehr Chancen als Risiken.
Für die Virologie ist die moderne Genetik geradezu eine Offenbarung (kann hier allerdings auch kräftig missbraucht werden).
Die Rolle der Genetik bei der Aufklärung der Grippewelle vor 100 Jahren sollte aber sogar einem fundamentalen Gentechnik-Verweigerer etwas Respekt abgewinnen.
Kommentar vom Mikrobiologen:
Natürlich wäre so ein Ausbruch, entsprechende Virusmutationen vorausgesetzt, theoretisch wieder möglich.
Allerdings haben wir heute wesentlich mehr Möglichkeiten, intensivmedizinisch vorzugehen und die der Virusgrippe oft nachfolgenden, sekundären bakteriellen Infektionen wie Lungenentzündungen antibiotisch zu behandeln.
Aber daran versterben auch heute noch in jeder Saison Tausende von meist älteren, oder vorerkrankten Menschen.
Das Beste ist daher, wenn man die Grippe erst gar nicht bekommt - der beste Schutz dagegen ist die jährliche Impfung, die zwar nicht immer hundertprozentig schützen kann, aber den Ausbruch und den Verlauf einer Grippe verhindert oder abschwächt.
Insofern ist es ignorant, sich nicht impfen zu lassen, oder auf sein „starkes Immunsystem“ zu vertrauen - wer einmal eine echte Virusgrippe hatte, weiß, dass sie nichts mit einem grippalen Infekt zu tun hat, sondern die Erkrankten mit hohem Fieber zwei bis drei Wochen komplett lahmlegt, in seltenen Fällen auch mit Folgeerkrankungen wie Herzmuskelentzündungen oder eben Lungenentzündungen.
So was braucht kein Mensch.
Und erst recht nicht muss man ausgerechnet daran versterben müssen...
Ich stimme Ihnen ja bei. Jedoch glaube ich auch, dass man sich leicht etwas vormacht, was den Einfluss der modernen Medizin und die viel besseren Erkenntnisse über Epidemiologie angeht.
Zum einen ist weltweit die Mehrheit der Menschheit eben nicht gut medizinisch versorgt, eine Ausbreitung daher auch wahrscheinlicher als hierzulande (zumal es auch noch genügend militärische Konflikte gibt, die die Menschen diesbezüglich „ zu Tode“ ablenken). Zum anderen kommt es bei exponentieller Zunahme von Ansteckungen ja auf die frühen Gegenmaßnahmen an. Werden die verpasst, bricht u.U. eine ganze Kette von angenommenen Grundparametern weg, mit denen man bekämpft. Es ist dann viel wahrscheinlicher, dass der nächste Tote eben auch ein Arzt oder ein Pharmazeut ist. Oder der, der sonst den Mundschutz und die Handschuhe in die Stadt ABC ausgeliefert hat. Dann können buchstäblich alle Dämme brechen.
Es kommt bei echten Pandemien m.M.n. nur noch auf die banalen hygienischen Maßnahmen an, nämlich zu isolieren und -wo das nicht geht- maximale Hygiene durchzusetzen. Also den Alltag der Menschen temporär völlig zu ändern. Keine Arbeit, keine Schule, keine Kultur, kein unnötiger Verkehr, Minimalversorgung, harte Ausgangssperren. Ohne diese Einschränkung bräche die von Ihnen beschriebene bessere medizinische Versorgung m.M.n. recht schnell zusammen. Ich frage mich, wie klar uns das allen ist und ob wir als globale Gesellschaft nicht ganz leicht den Punkt der rechtzeitigen Eindämmung verpassen.
"Was hat Trump mit der Spanischen Grippe von damals zu tun?"
Sorry, überflüssig wie ein Kropf in einem solchen Artikel über ein solch ernstes Thema.
Muß Trump in bald jedem Artikel irgendwie erwähnt werden?
Wenn es hilft, die wirtschaftlichen und sozialen Auswirkungen zu erläutern, warum nicht?