Nach Eden fährt der Bus der Linie 824 alle zwanzig Minuten vom S-Bahnhof Oranienburg bei Berlin. Fahrzeit ungefähr zehn Minuten, vorbei an viel DDR-Plattenbau, dem Oranienburger Schloss und den landesüblichen Einkaufsmärkten. Aussteigen an der Haltestelle Eden – und tief Luft holen. Der erste Eindruck ist niederschmetternd: Ein Steakhaus, das Papa Asada heißt, liegt nicht weit entfernt, die neue Bundesstraße 96 ist in Sichtweite, das übliche Verkehrsgetobe.
Angesichts dieser bundesrepublikanischen Normalität aus Autobahnzubringern und Leichenschmaus käme niemand auf die Idee, dass hier vor mehr als hundert Jahren ein paar hoffnungsvolle Berliner Vegetarier und Weltverbesserer das Paradies auf Erden gegründet haben: "Eden", eine Obstbaukolonie vor den Toren Berlins, der Traum unserer pflastermüden, großstadtgeplagten Urgroßväter, die hier barfuß über die Sandwege einem anderen Leben und einer besseren Zeit entgegenlaufen wollten.
Es war an einem schönen Maientag im Jahr 1893, als sich nachmittags um halb drei 18 ernste Herren mit Backenbärten in der vegetarischen Speisegaststätte Ceres in Berlin-Moabit, Paulstraße 1, trafen und erst um 23 Uhr nach getaner Paradiesgründung wieder auseinandergingen. Der Initiator dieses Treffens war der Berliner Fabrikantensohn Bruno Wilhelmi, Mitglied des 1892 gegründeten Deutschen Vegetarierbundes, Autor der Zeitschrift Der Naturarzt, Südamerikafahrer und Lebensreformer. Er wollte, wie es sich bei Paradiesgründungen gehört, die größten Menschheitsprobleme exemplarisch auf einem Flecken Erde lösen.
Deswegen sollte in Eden kein Fleisch gegessen werden, Grund und Boden sollten allen gemeinsam gehören, Arbeits- und Wohnort durch den Obstanbau im eigenen Garten wieder eins sein, die Kinder frei und gleich erzogen werden. In Wilhelmis eigenen Worten klang das so: "Im Paradies herrscht Frieden: Lassen wir zunächst den Tiermord. Das Paradies ist ein Garten: In einen Garten wollen wir unseren Acker verwandeln, in einen Garten, der alle Sinne entzückt. In Eden herrscht Geselligkeit. Zu fruchtbarer Geselligkeit werden wir uns alle Grundbedingungen schaffen: Gesundheit, erworben und erhalten durch reine Nahrung, Betätigung im Freien, Pflege des Körpers mit Hilfe von Licht, Luft und Wasser, Sorgenlosigkeit als Folge unserer leicht befriedigten, geringen körperlichen Bedürfnisse."
Oranienburg-Eden, Berlin
Bald erwarb man in der Mark Brandenburg mit einer Anzahlung von nur 3000 Reichsmark eine 37 Hektar große sandige Schafweide, die bis zum Jahr 1900 bereits auf 120 Hektar erweitert wurde. Damen in bodenlangen Röcken und Herren mit Strohhüten machten sich auf der öden Weide an die Arbeit. Eden entwickelte sich zu einem "Sammelpunkt sittlich strebender Menschen", die sich in der Plüschkultur des Kaiserreichs nicht mehr wohlfühlten. Aus Berlin wurde Straßenkehricht, mit anderen Worten Pferdemist, mit Kähnen auf dem Oranienburger Kanal herbeigeschafft und auf dem Rücken in Traggestellen über den losen Gartenboden geschleppt und verteilt, um das karge Land urbar zu machen.
Die ersten Siedler bauten sich einfache Gartenhäuser mit Wohnküche, Stube, zwei Schlafkammern, Trockenboden, Waschküche und Vorratskeller. Bis zum Ersten Weltkrieg errichteten die Bewohner achtzig solcher "Heimstätten", jede von einer kleinen Obstplantage von 2800 Quadratmetern umgeben, wo sie Apfelbäume und Beerensträucher, Rhabarber, Erdbeeren und Gemüse zur Selbstversorgung anbauten.
Die reformpädagogische Edener Schule entstand im Jahr 1897 als eine der ersten ihrer Art in Deutschland. Lehrer Dittmann trug hier Sorge dafür, dass die Berliner Stadtkinder ins Freie kamen, die Natur kennenlernten und die alten Naturfeste im Frühling, zur Sommersonnenwende und zur Ernte mit Tanz und Blumenkränzen begingen. Wer in Eden leben wollte, der musste nicht nur gerne barfuß im Sand gehen und Äpfel ernten, sondern sich allgemein für eine einfache, aber "veredelte" Lebensweise entschieden haben und auf alle "Nervengifte" verzichten.
Bis heute mahnt eine Emailleplakette im Zentrum des Ortes: "Die Bewohner dieser Siedlung meiden den Alkohol und den Tabak. Besucher werden gebeten, nicht zu rauchen, damit der Jugend kein schlechtes Beispiel gegeben werde. Wie können wir verlangen, daß unsere Kinder die Kulturlaster ablegen, wenn wir Erwachsenen ihnen nicht mit gutem Beispiel vorangehen? Der Vorstand der Obstbau-Kolonie Eden".
Wenn man von der Haltestelle Eden aus in das Gewirr aus Sand- und Asphaltwegen der Edener Gartenstadt eintaucht, auf dem Mittelweg über den Balzerweg, die Wilhelm-Groß-Straße und den Struveweg zur alten Mosterei und zur Siedlungsverwaltung läuft, ist von der alten Blumenkranz- und Apfelplantagenseligkeit nicht mehr allzu viel zu sehen. Bundesdeutsches Kleingärtnerglück, wie mit der Nagelschere zurechtgeschnitten, hier und da eine misstrauische alte Dame mit Häkelmütze beim Laubharken, die, wenn man sie anspricht, lieber schnell hinter ihren Tüllgardinen im Inneren des Hauses verschwindet.
Es ist ein goldener Herbsttag im ehemaligen Paradies. Sonnenblumen lassen ihre müden Köpfe hängen, alte Volvos mit dem Kennzeichen OHV für Oberhavel schlummern unter Garagendächern. Ein paar Hühner wandern müßig über die Wege, Kinder sind weit und breit nicht zu sehen. Hinter dicht gewachsenen Hecken ahnt man wunderschöne alte Hutzelhäuser unter dem grauen DDR-Putz. Überdachte Briefkästen, angekettete Gartenstühle lassen auf ein eher hohes Durchschnittsalter der heutigen Eden-Bewohner schließen, deren besondere Leidenschaft sich in der großen Vielfalt der Hundewarnschilder ausdrückt: "Den Ersten beißen die Hunde", "Vorsicht, ich könnte heute schlecht drauf sein" und so weiter.
Kommentare
große gesellschaftliche Aufbrüche?
Zitat:
"... all die folgenden Jugendrevolten und großen gesellschaftlichen Aufbrüche, von der 68er-Revolte bis zur Anti-Atomkraft-, bis zur Landkommunen- und Ökologiebewegung der Gegenwart, stehen immer noch in der Tradition der Lebensreformbewegung um 1900."
Das ist natürlich nur die eine, die bürgerlich-romantische (rückwärtsgewandte?, Rousseau'sche?) Seite der "großen gesellschaftlichen Aufbrüche"
Die andere Seite der "großen gesellschaftlichen Aufbrüche" findet man natürlich bei der russichen Oktoberrevolution und all den sozialistischen Revolutionsversuchen in Europa.
Bei Maos "großem Sprung" scheinen dann die Sehnsucht nach dem traditionellen bäuerlichen Landleben einerseits und nach der proletarischen industriellen Entwicklung andererseits eine merkwürdige, fürchterliche Verbindung einzugehen.
Fazit:
Subjektiv werden sich die ganzen "Lebensreform"-Versuche ungeheuer wichtig genommen haben (so auch heute), objektiv haben ganz andere Kräfte die Oberhand gewonnen - und sind inzwischen schon wieder gescheitert.
Jedenfalls haben unsere Grünen, einschlisslich "Stuttgart 21" ganz weit zurückreichende Wurzeln ...
Was andererseits fast ganz zu fehlen scheint (die "Linke" usw. sind nur ein schlechter Ersatz), ist ein geistiges, nicht kleinbürgerliches, Anknüpfen an die linke revolutionäre Tradition in Deutschland (Marx, Engels, Lasalle, Liebknecht, Luxemburg, Matrosenaufstand, Rote Ruhr-Armee,...).
(PS: Man muss allerdings nicht immer alles auf die Nazis beziehen.)
Ach übrigens,
wie wärs mit einer Serie über die linken "grossen gesellschaftlichen Aufbrüche" in Deutschland und Europa? Da gab es doch trotz des schließlichen Scheiterns (nicht nur an Restauration und Faschismus, sodern vor allem auch am russischen Bolschewismus) einiges, was nicht vergessen werden sollte. Man schaue sich zum Vergleich nur einmal Strassen-, und Platznamen in Paris und der Banlieue an, um zu sehen, wie eine Nation alles integrieren kann - von den absoluten Monarchen über die Jakobiner bis zur Commune de Paris:
Alles hat seinen berechtigten Platz im nationalen Gedächtnis,
während man bei uns immer noch bei den Säuberungsversuchen ist ...
Willkommene Ergaenzung
Liebe NutzerIn th, Ihr Kommentar spricht mir aus der Seele. Die Abwesenheit anderer (vor allem linker - wobei es da ja auch nicht nur 'die' eine gibt!) Traditionslinien reformerischer Ideen und Projekte (nicht nur des 20. Jahrhunderts) in Iris Radisch's Artikel ist augenfaellig. Die von Ihnen angeregte Vervollstaendigung des Bildes inklusive internationaler (moeglicherweise auch disziplinaerer) Verstrickungen durch eine Serie von Artikeln waere wirklich interessant. Die Zeitschrift Archis/Volume hat vor einiger Zeit beispielsweise aus Sicht von Architektur und Gestaltung den Versuch einer 'Complex History of Sustainability Timeline' unternommen - allerdings grafisch diagrammatisch, nicht narrativ. Die Bandbreite ist jedoch selbst in dieser verkuerzten Form noch recht beeindruckend... (siehe: http://issuu.com/archis/d...)
Paradies
Der Artikel greift eine gesellschaftliche Strömung auf, die eine Sehnsucht von Menschen nach Naturbelassenheit verdeutlicht - dies hat es sicher immer gegeben, aber das ausgehende 19.Jahrhundert war in Teilen Europas geradezu prädestiniert dazu, kollektiven Sehnsüchten Gestalt zu geben. Das, was als "industrielle Revolution" bezeichnet wird, war in vollem Gange und damit einher ging die Entfremdung vieler Menschen von ihrer Arbeit, ihrem familiären Umfeld, ihren sozialen Beziehungen und eben der Natur. Die einen bemühten sich um kollektive Lösungen, während andere eher individueller vorgingen, kleinteiliger und überschaubarer. Die Kontinuität dieser Eigenschaften an und in uns Menschen hat doch was Beruhigendes...