Viele Deutsche haben ein Problem damit, etwas an Deutschland uneingeschränkt gut zu finden. Wir waren mal die Supernationalisten Nummer eins, heute sind wir das Gegenteil. Wir schämen uns fast, wenn jemand uns lobt. Es gibt folglich nur ganz weniges, worauf alle Deutschen stolz sind, von politisch links bis politisch rechts. Der Fußball vielleicht? Und, natürlich, das deutsche Brot. Die Deutschen haben wahnsinnig viele Sorten Brot. Fast alle sind lecker. Unser Brot ist das beste.
Das gilt aber nur für Westdeutschland. Im Osten, in der früheren DDR, wird einem zur Bratwurst oder zur Suppe fast immer, bis auf den heutigen Tag, eine labbrige, klebrige und geschmacksfreie Teigmasse gereicht, ein Toastbrot. Wenn es keinen labbrigen Toast zum Essen gibt, dann stammt der Restaurantbesitzer aus dem Westen oder ist ein Anpasser. So ein Toastbrot kann natürlich annehmbar schmecken, allerdings nur, nachdem es in einem Toaster getoastet wurde, dazu ist es gemacht, deshalb heißt es "Toastbrot". Ein ungetoastetes Toastbrot ist nur ein Rohstoff, aus dem durch den Prozess des Toastens etwas Essbares hergestellt wird. Im Osten servieren sie das Toastbrot roh. Das ist ungefähr so, als ob man lebende Schnecken in das Schneckensüppchen wirft oder ungebackenen Pizzateig mampft. Einen rationalen Grund für diesen Brauch erkenne ich nicht. Auf dem Gebiet der ehemaligen DDR wäre es jedenfalls kein Problem, essbares Brot zu kaufen, die Grenze ist offen.
Ich will nicht die kulinarischen Traditionen des Ostens pauschal schlechtmachen, es gibt dort gute Süßigkeiten, etwa die Halloren-Kugeln, es gibt die gute Suppe Soljanka, es gibt gute Brötchen, die irritierenderweise "Knüppel" heißen. Im Westen sind Knüppel etwas, womit man jemandem das Maul zu Brei haut. Das Schlimmste an der DDR-Küche waren allerdings diese Toastscheiben. Dass ausgerechnet die bis heute überlebt haben, ist ein historisch denkwürdiges Ereignis. Man stelle sich vor, Großbritannien ginge unter, Vereinigung mit den USA, und das, was kulturell bliebe, wären nicht die unverwüstlichen Rolling Stones, die leistungsstarke Premier League, das süße Königshaus, sondern der schleimige Porridge. Oder es wäre umgekehrt gekommen – die DDR schluckt die BRD. Und das, was von der westdeutschen Küche übrig bliebe, wären die Ravioli aus der Dose, ein in der BRD auf ähnlich rätselhafte Weise populäres Gericht wie der ungetoastete Osttoast.
Ich glaube inzwischen, dass der ungetoastete Osttoast ein Symbol für den DDR-Sozialismus ist und deshalb so tief verankert ist in den Geschmacksnerven der Ostdeutschen. Der Sozialismus hat Wohlstand und Demokratie versprochen, beides ließ auf sich warten, so lange, bis die Menschen die Geduld verloren haben. Der Sozialismus war ein Toast, der wunderbar schmecken würde, wenn er erst mal fertig getoastet ist. Man sollte Geduld haben. Und heute liegt da, am Tellerrand, dieser blasse, labbrige Toast, und man denkt sich vielleicht: Wenn man Geduld hat, wenn man Vertrauen in die Partei hat, wenn man nicht abhaut, dann, eines Tages, wird dieses labbrige Ding sich in einen knusprigen, duftenden, kommunistischen Toast verwandelt haben, und die aus dem Westen werden neidisch sein. So wartet man und wartet, aber eines Tages, da bin ich sicher, werden die Massen auf die Straße strömen, und statt "Wir sind das Volk" werden sie rufen: "Wir sind das Brötchen! Wir sind das frische Baguette!" Dann ist endlich Schluss mit dem Toast.
Martenstein auf Englisch: Im "ZEITmagazin – The Berlin State of Mind"
Diese Kolumne erscheint am 12. Oktober weltweit auf Englisch in unserer neuen "International Issue". Die ist an ausgewählten Verkaufsstellen
auch in Deutschland erhältlich (260 S., 8,90 €). Und sie kann – auch vorab – per E-Mail bestellt werden.
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