Alastair Humphreys ist Tausende Kilometer um die Welt geradelt, durch die Sahara gerannt und quer durch Indien gewandert. Er ist über den Atlantik gepaddelt und hat die größte Wüste der Welt durchlaufen. Fast die Hälfte aller Länder hat der Brite bereist, und dann ist er bekannt geworden mit einer Tour vor seiner Haustür: In einem bitterkalten, trüben Januar wanderte er die M 25 entlang. Die Autobahn umkreist London und ist, wie Stadtautobahnen im Winter eben so sind: grau und hässlich. Sein Plan war, das Abenteuer am langweiligsten Ort zu suchen, der ihm einfiel. Mit einem Freund ging er los, immer so nah wie möglich an der Straße, durch Industriegebiete, Wohnsiedlungen und Ackerland. Sie kletterten über Zäune und schlugen sich durch Büsche. Sie aßen in Autobahnraststätten und Pubs, schliefen unter Brücken, in Gärten, im Schnee.
Jahrzehnte war Humphreys um die Welt gezogen und hatte davon gelebt, Vorträge über Extreme und Grenzerfahrungen zu halten, die er an den entlegensten Orten erlebt hatte. Oft kamen danach Leute aus dem Publikum zu ihm und sagten: Wahnsinn, was du alles machst! Aber du bist ja auch ein Abenteurer, ich dagegen bin nur ein normaler Mensch. Deshalb die M 25.
"Abenteuer ist ein weiter Begriff und für jeden etwas anderes", sagt Humphreys. "Aber im Grunde geht es darum, etwas Neues auszuprobieren, die eigene Komfortzone zu verlassen." Und das klappt auch ohne Arktis-Expedition oder monatelange Auszeiten. Der Ausflug an die Autobahn gefiel so vielen Menschen auf Humphreys’ Social-Media-Kanälen, dass er beschloss, weiterzumachen: Er radelte nach der Arbeit aus London raus, fuhr ans Meer und legte sich mit dem Schlafsack an den Strand. Er spazierte in einer Vollmondnacht am Stadtrand über Felder und schoss Fotos mit extralanger Belichtungszeit. Er wanderte an Weihnachten tagsüber dorthin, wo er am Abend feierte. Er fing einen Fisch und briet ihn überm Lagerfeuer. Mikro-Abenteuer nennt er das. Sie sind billig, einfach und kurz, bieten aber alles von einem großen Abenteuer: die Herausforderung, den Bruch mit dem Alltag, das Lernen – kondensiert in einem Tag oder ein paar Stunden. "Ich wollte die Hürden einreißen, die uns davon abhalten, zum Abenteuer aufzubrechen", sagt Humphreys. Das Buch, das er darüber schrieb, wurde zum Bestseller.
Es reicht, im eigenen Garten zu übernachten
"Mikro-Abenteuer passen gut zum modernen Menschen", sagt Anja Göritz, Psychologieprofessorin an der Universität Freiburg. "Er hat wenig Zeit und Natur, dafür viel Beton und Lärm um sich. Die kleinen Ausbrüche sind eine effiziente Form der Erholung." Der Urlaubsforscher Gerhard Blasche aus Wien sagt, oft sei uns gar nicht bewusst, wie wir uns am besten erholen. Viele glaubten, nach einem anstrengenden Tag sei Nichtstun oder Schlafen das Entspannendste – ein Trugschluss. "Früher hat man sich beiläufig erholt. Heute ist das nicht mehr so", sagt er. Damit es trotzdem klappe, müsse man sich mental vom Alltag distanzieren. Denn die Arbeit oder ein Streit zu Hause sind nicht nur währenddessen anstrengend. Stresshormone werden auch ausgeschüttet, wenn man auf der Couch darüber nachdenkt. Der Körper kommt nicht zur Ruhe.
Ablenkung hilft, besonders die durch Natur: "Natürliche Reize binden die Sinne und damit die Aufmerksamkeit", sagt Blasche. Das Grün und Vogelgezwitscher, der Wind und das Wahrnehmen des Tag-Nacht-Rhythmus bieten einen Kontrast, der einen abschalten lässt. Weil wir Dingen ausgesetzt sind und Widrigkeiten überwinden müssen, die anders sind als sonst. "Kleine Abenteuer sind vielleicht erst mal ein bisschen anstrengend. Aber sie bringen uns raus und schaffen eine Distanz zwischen uns und unseren Sorgen", sagt Blasche. Aus der Forschung weiß man, dass neben dem Abschalten vor allem das Meistern von Herausforderungen der Erholung dient. Sich im Gelände ohne Navi zurechtfinden. Feuer machen. Draußen kochen. Tiere und Pflanzen erkennen. "Es sind Ermächtigungserfahrungen, die den Horizont erweitern und die man wieder in den Alltag mit zurücknimmt", sagt Anja Göritz. Körperliche Aktivität gilt zusätzlich als einer der stabilsten Wirkfaktoren auf Gesundheit und Erholung. Und auch die Erdung, die bei einem Abenteuer in der Natur eintritt, tut gut: den Elementen ausgesetzt, wird man zurückgeworfen auf grundsätzliche Bedürfnisse wie Wärme, Essen, Geborgenheit. "Das relativiert die kleinen Nervereien des Alltags, sie erscheinen wie Bagatellen gegenüber dem wirklich Wichtigen", sagt Göritz.
Bleibt nur ein Problem: das Losgehen. Oft ist es gerade dann, wenn ein guter Moment wäre, draußen dunkel oder kalt und drinnen sehr gemütlich. Den Fernseher anmachen geht gerade noch. Den Rucksack packen? Unmöglich. Das Gemeine ist: Je nötiger wir es hätten, desto schwieriger ist das Aufraffen. Die Selbstdisziplin ist wie ein Muskel, der ermüdet. Wer im Alltag zu oft stark sein und Versuchungen widerstehen muss, dem fehlt diese Kraft für die Freizeit.
Alastair Humphreys kennt das Phänomen und empfiehlt, klein anzufangen: Einmal im Garten schlafen. Oder im Park frühstücken. Zum nächsten Fluss rennen und reinspringen. Im Winter auf dem Balkon zu Abend essen. Tu es allein. Oder mit einem Freund. In einer Nacht unter der Woche. Am Geburtstag. Oder zur Sonnenwende. Währenddessen werden Ideen kommen, für die nächsten Abenteuer.
Kommentare
Irgendwie verstehe ich dieses mit dem verlassen der Komfortzone der jungen Menschen nicht. Das was da Menschen als Abenteuer bezeichnen ist für mich nichts dagegen, was für ein Abenteuer ein "normaler" Mensch erleben muss, wenn eine schwere Krankheit diagnostiziert wird oder auch "nur" in der Pflege arbeitet.
Die einzigen Abenteuer die ich noch erleben möchte, möchte ich haben wenn ich ein Buch lese, ein Spiel spiele oder Netflix gucke und ich bin mir sicher das es vielen meiner Mitmenschen, die schon viel vom Leben gesehen haben, ähnlich geht.
Sie schreiben über die negativen Abenteuern, die einen aus dem Hinterhalt überfallen und von sicher dringend nötigen Erholungsphasen davon.
Aber das im Artikel beschriebene "kurzzeitige Ausbrechen" aus der Routine, dem Alltagstrott und den "negativen Abenteuern" eröffnet schon andere Perspektiven. Es sind ja Abenteuer in der Komfortzone und eben nicht die großen "gefahrvollen" der Abenteuerliteratur.
Sehr inspirierend und schön erklärt wie Herausforderungen erholend wirken. Danke dafür!
Ja und der "Schlafen Sie doch mal im Garten" Ratschlag findet sich nur 2 Artikel unter der Fotostrecke mit den Berliner Obdachlosen! Soviel Fingerspitzengefühl; Top!
Übernachten im Garten? Klar. Mach ich gern, besonders im Sommer wenn es drinnen im Haus drückend warm ist. Feldbett raus auf die Terrasse, Schlafsack oder Decke drauf, kleines Kopfkissen und los gehts. Einfach herrlich, da macht sogar das Aufwachen Freude wenn es ganz langsam hell und der Tag beginnt.
Einziger Minuspunkt; unser Kater meint gern mich mitten in der Nacht mit einem Sprung auf den Schlafsack wecken zu müssen. Und das ist dann zuweilen doch ein wenig heftig ... :D
Hier würden sich zwei Probleme auftun.
Einmal die stechenden Plagegeister und dann das eigene Schnarchen, was den nachbarlichen Frieden beeinträchtigen könnte.
Jeden Sommer verbringe ich mit den Kindern einen "Zelturlaub" im eigenen Garten.
Für die Kinder ist dies bereits ein "Abenteuer" ;-)